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Gasstreit: Mittelmeer des Nordens

Der Streit um die Gaspipeline zeigt: Die Ostseeregion muss endlich ein politisches Kraftzentrum werden. Im Fall des Falles sind die Regelungskompetenzen und -möglichkeiten der EU sehr begrenzt.

Als zu Beginn des Sommers im Mittelmeer Feuerquallen auftauchten, empfahlen Experten einen Urlaub an der Ostsee: Die dort vorkommenden Ohrenquallen brennen nicht. Und auch als Nicolas Sarkozy im Juli mit großem Pathos die Mittelmeerunion ins Leben rief („Hier und nirgendwo anders spielt die Zukunft Europas“, sagte einer seiner Berater), kam indirekt auch die Ostsee auf die Tagesordnung. Doch selbst der Miterfinder des 1992 gegründeten Ostseerates, der ehemalige dänische Außenminister Uffe Ellemann-Jensen, beklagt inzwischen das Desinteresse rund um dieses Meer. Eine politische Strategie hat diese nördliche Interessengemeinschaft noch immer nicht entwickelt. Dabei ist allgemein unbestritten, dass im Zeitalter der Globalisierung die Bedeutung regionaler Zusammenschlüsse und Kooperationen für Wirtschaft, Politik und Kultur ständig wächst. Für viele Beobachter ist hingegen der Eindruck entstanden, dass der Ostseerat seit Jahren zwischen politischer Hoffnung und faktischer Bedeutungslosigkeit dümpelt.

Warum soll für die Ostseeregion nicht gelten, was für das Mittelmeer gerade beschlossen wurde? Der aktuelle Konflikt um die Ostseepipeline – Wladimir Putin stellte gerade erst das gesamte Projekt infrage –, die Krisen im Kaukasus und um die mittlerweile vereinbarten amerikanischen Raketenabwehrstationen in Polen und Tschechien sprechen eine andere Sprache: Im Fall des Falles sind die Regelungskompetenzen und -möglichkeiten der EU sehr begrenzt, die zum Teil ja sehr informellen Netzwerke spielen eine viel größere Rolle.

Dass Russland sich immer noch nicht mit der Unabhängigkeit der ehemaligen Sowjetrepubliken abgefunden hat, zeigt der Konflikt im Kaukasus; auch das Baltikum liegt weiterhin in einer Gefahrenzone, für sie ist die Einbindung in regionale, institutionalisierte Netzwerke überlebensnotwendig. Es gehört nicht viel politische Fantasie dazu, sich auszumalen, dass nach dem Kaukasus-Konflikt die von Deutschland und Russland betriebene und von allen anderen Ostseeanrainern – gelinde gesagt – ungeliebte Gaspipeline weiter an Zustimmung verlieren wird. Die von den östlichen Mitgliedern des Rates kritisierte weiche Haltung der Deutschen und Europäer gegenüber Russland wird auch trotz des versöhnlichen EU-Russland-Gipfels am vergangenen Freitag schärferen Gegenwind erfahren. Ganz offensichtlich sind die Chancen dieses nördlichen Konsultationsforums nicht genutzt worden. Einiges politisches Porzellan ist zerschlagen. Mit dem Argument der deutschen Energiesicherheit wird man den Verlust an Vertrauen in der Region kaum aufwiegen können. Wie unfair dieser Vorwurf gegenüber der deutschen Politik auch ist, allein schon, dass der Vorwurf im Baltikum geäußert wird, man würde gegenwärtig die Fortsetzung des Molotow-Ribbentrop-Vertrages erleben, zeugt davon, wie viel Sympathie seit 1990 verspielt worden ist.

Seit Jahren ist bekannt, dass die Ostseeregion ein bedeutendes ökonomisches Kraftzentrum ist. Der Anteil der Anrainerstaaten am Welthandel – und dabei werden im Falle Deutschlands und Polens sowie Russlands nur die nördlichen beziehungsweise nordwestlichen Gebiete erfasst – beträgt imposante sechs Prozent, bei einem minimalen Anteil an der Weltbevölkerung; allein für die Bundesrepublik beträgt der Ostseehandel zehn Prozent, der Export ist größer als der nach USA und Japan zusammen. Deutschland ist für fast alle Ostseestaaten einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Handelspartner. Mit 103 Millionen in dieser Region lebender Menschen werden allein neun Prozent des globalen Bruttosozialproduktes geschaffen, bei einem jährlichen Wachstum von durchschnittlich 4,5 Prozent (2006). Die Ostseeregion ist bereits ein globales Forschungszentrum: Über 100 Universitäten und Forschungsinstitute liegen in ihrem Einzugsbereich, und das nicht erst seit unserer Zeit – rund um die Ostsee finden wir mit die ältesten Universitäten des Kontinents: Rostock, Greifswald, Uppsala, Kopenhagen, Königsberg, Vilnius , Tartu/Dorpat, Åbo/Helsinki, Kiel, Lund. In dieser Region haben Nikolaus Kopernikus, Tycho Brahe, Carl von Linné, Immanuel Kant, Søren Kierkegaard, Niels Bohr und viele andere gelebt und geforscht, hier werden seit 1901 alljährlich die Nobelpreise vergeben. Rund um den Öresund, nach dem Brückenbau die am rasantesten wachsende Region in Europa, und ausgreifend nach Mecklenburg-Vorpommern haben sich prosperierende biotechnologische, pharmakologische und medizinische Firmen und Forschungsinstitute angesiedelt („Medicon Valley“ und „Biocon Valley“). Sie tragen heute nicht unwesentlich zur Prosperität und vor allem zum Optimismus in dieser Region bei.

Die Superfährschiffe der Colorline, die zwischen Kiel und Oslo verkehren, demonstrieren ein völlig neues Transportkonzept und damit die sich verändernde Marktsituation. Die Kreuzfahrerei in und über die Ostsee ist zu einem der beliebtesten Freizeitvergnügen geworden, mit der auch überseeische Kunden bedient werden. Das Ostseegebiet weist mittlerweile weltweit die meisten Fährschiffslinien im Personenverkehr aus. Die Transportzahlen über das baltische Meer wachsen exorbitant.

Die Ostseeregion zeichnet sich vor allen anderen Regionen unter anderem dadurch aus, dass hier eine vielfältige, ganz und gar unübersichtliche Flora von NGOs, von Nichtregierungsorganisationen, anzutreffen ist. Sie kümmern sich um lokale und regionale Belange, um Arbeitsmarktfragen, Umweltschutz, um Forschung und Bildung, um Städtepartnerschaften und überregionale Zusammenarbeit. Der Wille zur Kooperation jenseits von regierungsamtlichen Institutionen ist in einer Weise ausgeprägt, wie das wohl weltweit einmalig ist. Hier wird eine zivilgesellschaftliche Kultur über die Regionen und Grenzen hinweg offenbar, die maßgeblich den Transformationsprozess nach 1989 abgefedert hat. Aber eben nicht erst seit 1989 – die Region ist von einem gewachsenen Beziehungsgeflecht bereits über den Eisernen Vorhang hinweg geprägt worden: Berufsverbände haben zusammengearbeitet und ihre Kooperation nach 1989 verstärkt, vorhandene persönliche Beziehungen sind vertieft worden, geschichtliche (und politische) Aufarbeitungen haben stattgefunden.

Die Ostsee, das sagen Experten seit Jahren, ist zugleich eines der, wenn nicht das verdreckteste Gewässer der Welt, gelegen in einer der reichsten Regionen der Welt, mit einem umweltbewussten Profil. Die Bilanz ist in der Tat erschreckend, wobei man in Rechnung stellen muss, dass seit 1989 praktisch keine Industrieabwässer mehr in die Ostsee gelangen – weil es keine Industrie mehr gibt. Gut ein Sechstel des Ostseegrundes ist biologisch tot. Auch die während und nach den Weltkriegen in der Ostsee verklappten Waffen stellen eine erhebliche und ständig aktuelle Gefahr für Tiere und Menschen dar; wöchentlich ging in der Vergangenheit dänischen Fischern eine chemische Bombe ins Netz – man geht von 40 000 Tonnen chemischer Altwaffen aus, konservativ geschätzt. Die Streckenführung der Ostseepipeline musste deswegen schon mehrfach verlegt werden.

Seit Fernand Braudel, dem großen französischen (Mittelmeer-) Historiker, trägt die Ostsee den Titel „Mittelmeer des Nordens“. Damit ist gemeint: Wenn es einen zweiten Ursprung der europäischen Zivilisation gegeben hat, dann ist es die Gegend um die Ostsee. Mit der Ausbreitung des Christentums während der Wikingerzeit, vor allem mit der wirtschaftlichen und kulturellen Begegnung zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West während der Hansezeit. Die nordeuropäische Backsteingotik dürfte die sinnfälligste Erscheinung einer eigenen nordeuropäischen Kultur und Kunst sein – mit der Marienkirche in Danzig als der größten Backsteinkirche der Welt und unweit davon der Marienburg, dem weltweit größten Backsteinbauwerk überhaupt. Wenn es eine gemeinsame kulturelle Identität der Ostseeregion gibt, dann ist sie manifest in der Backsteingotik des späten Mittelalters. Braudel nannte das Mittelmeer eine „außergewöhnliche Persönlichkeit“: Die altägyptisch-jüdisch-hellenistisch-römisch-islamische Wiege der europäischen Zivilisation steht für ihn an den Ufern des Mittelmeeres, ihre zivilisatorische Vielfalt suchte ihre Einheit im kulturellen Miteinander – und konnte sogar produktiv werden. Dies galt und gilt (in kleinerem Maßstab) auch für die Ostseeregion.

Mit dem Hinweis auf den Zivilisationsursprung ist die Argumentation an dem Punkt angelangt, an dem man sagen kann, warum die Ostseeregion, warum der Norden Europas es heute in der öffentlichen und politischen Wahrnehmung so schwer hat, warum es trotz des immer wieder attestierten Vorbildcharakters dieser Region, der politischen und sozialen Vorbildlichkeit des politischen Alltags in den skandinavischen Ländern immer wieder besonderer Anstrengungen, ja Anschübe bedarf, um Aufmerksamkeit, um Interesse, um ernsthafte Beschäftigung zu finden. Während des „Dritten Reiches“ wurden Wissenschaftler in das Ostseebecken auf die Suche geschickt nach Belegen für den „arischen“ Zivilisationsursprung – bis 1945 galt die Ostsee in der nazistischen Ideologie als die aufgenordete Wiege der Zivilisation schlechthin. Die „nordische Welt“ hatte ihren Mittelpunkt dort, zwischen Braunschweig und Stockholm einte vermeintlich das gleiche Blut die Menschen und die Kulturen.

Sich der gemeinsamen Erinnerungsorte in der Region, gar der transnationalen Erinnerungsorte zu besinnen, fällt wegen des kontaminierten Erinnerungsschutts dieser Jahre so schwer. Wenn die Abgeordneten des deutschen Bundestages 2001 beschließen, dass die deutsche Regierung aktiv an der Entwicklung einer gemeinsamen Ostseeidentität mitzuarbeiten hat – durch die Implementation von gemeinsamen Projekten in der Bildung und Forschung, der Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur, den Menschenrechten, der Umweltpolitik und so weiter –, dann spricht daraus eine Überzeugung, dass es so etwas wie eine gemeinsame Identität gäbe, vielleicht gar geben müsse, dass man für die Entwicklung einer solchen Identität arbeiten könne und dass zum Dritten Identität aus wiedererkennbaren Elementen und Charakteristika bestehe. Das ist zu einfach gedacht, denn der ideologische Schutt von Jahren der Indoktrination ist zunächst einmal zu entsorgen. Zu diesem Schutt gehört auch die mentale Hinterlassenschaft der DDR, die die Ostsee aus leicht zu durchschauenden Gründen zu einem „Meer des Friedens“ erklärt hatte – gerade das aber war sie nicht, weder in der Vergangenheit noch während des Kalten Krieges.

Eine dringend anzugehende Aufgabe könnte darin bestehen, die gemeinsamen Erinnerungsorte einer nun in der Tat über tausendjährigen, keineswegs friedlichen Begegnungsgeschichte aufzuarbeiten. Insbesondere die Wiesen, Felder und Wälder entlang der südlichen und östlichen Ostsee sind blutgetränkt – nicht erst durch die Armeen Karls XII., Napoleons, Hitlers und Stalins. Wer heute Grunwald besucht, erfährt dort nichts von Tannenberg – das Wissen um beispielsweise gerade diesen transnationalen Erinnerungsort (deutsch-polnisch-litauisch) ist aber sehr wohl verbreitet; die deutsch-dänische Grenzregion wäre zu nennen oder das Baltikum, das multikultureller Transitraum aber auch multiethnischer Handelsplatz über Jahrhunderte gewesen war.

Die vergangenen Wochen und Monate haben gezeigt, dass die Ostseeregion politischer Aufmerksamkeit bedarf, nach wie vor gilt, was Madeleine Albright 1997 feststellte: „Europe is not safe unless the Baltic region is safe.“ Aus vielen Gründen verdient die Ostseeregion größeres öffentliches und politisches Interesse, ja eine stabilere politische, institutionelle Verankerung in den jeweils nationalen Politiken und in der europäischen Gemeinschaft. Es wäre ein gutes Signal, wenn am Ende der schwedischen EU-Ratspräsidentschaft 2009 die heute diskutierte „EU- Strategie für die Ostseeregion“ verabschiedet und zu neuen Impulsen für die Politik beitragen würde.

Bernd Henningsen

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