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Schauplatz Schule: Viele Lehrer fühlen sich ausgebrannt.

© dpa

Gastbeitrag: Für Lehrer wird zu wenig getan

Lehrer bieten eine Dienstleistung an, die von der Zielgruppe nicht nachgefragt wird. Deshalb ist viel seelische Energie notwendig – und die Gefahr des Ausbrennens höher als anderswo. Doch Lehrer werden zu wenig unterstützt.

Was ist das Besondere am Lehrerberuf? Die Erfahrung lehrt, dass es kaum gelingt, die Bedingungen dieses Berufs an Menschen außerhalb des pädagogischen Umfeldes zu vermitteln, ohne zugleich in Larmoyanz und Selbstmitleid zu verfallen. Zumal die erste und auch zutreffende Reaktion fast immer aus der Feststellung besteht, im eigenen Beruf seien die Anforderungen auch stark gestiegen, gefolgt von dem Hinweis auf die Ferien und die Verfügungsgewalt über das Zeitbudget. Auch Gerhard Schröders Äußerung über „faule Säcke“ verfehlt zumindest bei den Älteren noch immer ihre Wirkung nicht. Außerdem überlagern eigene, häufig negative Schulerfahrungen die Wahrnehmung. Und nicht zuletzt gibt es auch unter den Lehrern Menschen, die ihre Profession gut oder weniger gut ausüben.

Ein wichtiger Unterschied zu anderen Berufen liegt in der Zielgruppe selbst, den Schülerinnen und Schülern. Ich will das an zwei Beispielen verdeutlichen: Was macht der Normalbürger, wenn er an einer Haltestelle eine Gruppe lautstark und unkontrolliert agierender Fünfzehnjähriger sieht? Er wechselt die Straßenseite, froh, dass er ihr aus dem Weg gehen kann. Mein zweites Beispiel: Erinnern Sie sich noch, falls Sie Kinder haben, an die Kindergeburtstage, vor allem an den Moment, als die kleinen Gäste und deren Eltern die Wohnung verlassen hatten? Sie waren völlig erschöpft von dem Lärm und dem Gewusel der Kinder. Was Sie tröstete, war der Gedanke, dass ein ganzes Jahr bis zur Neuauflage vor Ihnen lag. Grundschullehrerinnen haben an 220 Tagen im Jahr einen Kindergeburtstag zu managen, mit Kindern, die sie längst nicht alle persönlich eingeladen haben. Und im normalen Lehreralltag stehen nicht fünf Jugendliche irgendwo, sondern über 30, und man kann nicht die Straßenseite wechseln, sondern man schließt die Tür hinter sich. Man versucht sie zu einem Verhalten zu bringen, zu dem sie wenig eigene Bereitschaft zeigen, womit wir beim wichtigsten Unterschied zwischen dem Lehrerberuf und anderen Professionen sind.

Lehrer bieten eine Dienstleistung an, die sehr häufig von den Abnehmern nicht nachgefragt wird. Kein Rechtsanwalt muss seine Klienten überreden, ihm Informationen für die Prozessführung zu geben, keine Verkäuferin steht am Eingang des Supermarkts und versucht die Kunden zu überzeugen, sich doch wenigstens mit den Grundnahrungsmitteln zu versorgen, bevor sie in die Süßwarenabteilung abbiegen. Aber jeder Lehrer kennt jeden Tag die Situation, dass er Kinder und Jugendliche dazu anhalten muss, sich mit einem Unterrichtsstoff zu befassen, der sie erst einmal nicht interessiert. Hinzu kommt, dass die Kinder den Lehrern keinen gleichsam natürlichen Respekt mehr entgegenbringen, was insbesondere Lehrerinnen im Umgang mit muslimisch sozialisierten Jungen zu spüren bekommen.

Schule agiert immer auf zwei Zeitebenen. Sie soll in der Gegenwart Kompetenzen für die Zukunft vermitteln und muss dabei von den Schülern in einer Phase, in der sie biologisch am wenigsten dazu in der Lage sind, Triebaufschub, Frustrationstoleranz und Kontrolle ihrer motorischen Bedürfnisse verlangen. „Buy now, pay later“, die Gegenwart ist alles, um die Folgen kümmern wir uns später oder gar nicht, ist die Devise unserer Zeit. Nur Lehrerinnen und Lehrer stehen täglich vor der Aufgabe, gegen diesen Zeitgeist anzugehen und ein anderes, konträres Verhalten anzustreben und notfalls auch durchzusetzen, was nichts anderes heißt, als seinen eigenen Willen gegen den von 30 bis 32 Kindern zu stellen. Natürlich läuft dieser Vorgang nicht als Machtkampf ab, sondern der Lehrkraft gelingt es, dank überragender Motivationsstrategien, die Kinder in ihren Bann zu ziehen. „Lol“ würde die Zielgruppe diese Vorstellung wohl kommentieren, „laughing out loud“ – mit lautem Gelächter.

Der Kern des schulischen Unterrichtens besteht in der Notwendigkeit, komplexe Dinge und Zusammenhänge so stark zu vereinfachen, dass sie noch fachlich richtig sind und zugleich an die Denk- und Lernstruktur von Menschen in einer völlig anderen Entwicklungsphase angepasst sind. Das ist eine Kompetenz, die außerhalb der Lehrerzunft nur wenige Menschen beherrschen. Sie erfährt zum Beispiel in der Werbebranche hohe Wertschätzung, nicht jedoch im Bezug auf den Lehrerberuf, weil die Kunst der Vermittlung mit der Kenntnis des Gegenstandes gleichgesetzt wird. Man schließt völlig zu Unrecht von der Beherrschung der Bruchrechnung auf die Fähigkeit, sie an einen anderen Menschen weiterzugeben. Versuche mit (besser: an) den eigenen Kindern beendet man eher mit Zweifeln an deren geistigen Fähigkeiten als an sich selbst.

Jeder Erwachsene hat den Fall der Berliner Mauer miterlebt. Wer begreifen will, wie schwer Unterrichten ist, möge sich einmal vornehmen, einem Fünfzehnjährigen, dem das eigene Erleben fehlt, dieses Ereignis einigermaßen plastisch und vollständig darzustellen. Er wird entweder auf der Anekdotenebene stehen bleiben oder endlos lang werden. Ein Lehrer muss dies in wenigen Unterrichtsstunden können, dabei Bildmaterial einbeziehen, die Hintergründe darstellen und die Ereignisse in einer sinnvollen Auswahl präsentieren. Und wenn dies nicht unverankerter Ballast sein soll, muss er seine Schüler auch noch emotional erreichen.

Guter Unterricht kann sich jedoch niemals auf die Material- und Bildauswahl beschränken, denn im Umgang mit Kindern ist immer die ganze Person gefordert. Keine Erziehung ohne Beziehung. Kinder und Jugendliche lernen für den Lehrer oder die Lehrerin, was bis in die Abiturklasse hinein gilt. Für die Lehrkraft bedeutet dies, dass sie in jeder Stunde ihren Anteil an dieser personalen Interaktion einbringen muss, dass sie demzufolge immer als ganze Person gefordert ist und sich zu keiner Zeit aus dem Geschehen ziehen kann. Hier liegt ein weiterer zentraler Unterschied zu anderen Berufen. Ein Busfahrer muss in das Busfahren nicht sein Seelenleben einbringen, und die Schrippen gelingen dem Bäcker auch, wenn er Stress mit seiner Frau hat. Kinder spüren sofort, wenn die Lehrkraft geistig nicht in vollem Umfang anwesend ist, das gilt acht Stunden am Tag und fünf Tage die Woche. Diese geistig-seelische Spannkraft aufzubringen, fällt vielen Lehrkräften, vor allem mit zunehmendem Alter, immer schwerer.

Kinder verfügen von Natur aus über andere motorische Bedürfnisse als Erwachsene und sie haben keine gefestigte Triebstruktur, will sagen, sie können ihre spontanen Bedürfnisse nicht oder nur schwer unterdrücken, was aber nötig ist in einer Gruppe. Kinder sind auch von Haus aus nicht sozial, sie sind im Gegenteil Egoisten, sie nutzen das Recht des Stärkeren, wenn sie niemand daran hindert. Das alles tritt verstärkt in der Schule auf. Kinder sind ständig in Bewegung und sie sind laut, vor allem, wenn sie müde werden. Dies ist die Ausgangssituation einer Lehrkraft an jedem Tag, und es ist ihre Aufgabe, einem anderen Verhalten und gruppentauglichen Normen Geltung zu verschaffen. Sie setzt die eigene Energie gegen die der Kinder und versucht, diese in einem langen Zeitraum der Erziehung sozial- und gesellschaftstauglich zu machen, wobei die praktische Umsetzung nur in einem gemeinsam gestalteten Prozess des Aushandelns und Einübens erfolgreich ist, dessen Initiation aber bei der Lehrkraft liegt.

Im Kern ist Lehrersein ein schöner Beruf

Es gibt keinen vergleichbaren Beruf, der ein solches Maß an seelischer Energie als massentaugliches Alltagshandeln fordert, und dementsprechend hoch sind die Ausfälle, wobei die Gefährdung mit zunehmendem Idealismus steigt. Besonders Berufsanfänger unterliegen der Verführung, die Balance zwischen Nähe und Distanz, beides unerlässlich, nicht einzuhalten, weil zunächst der Erfolg mit dem vollen Einsatz der ganzen Person steigt. Die Kraft muss aber immer wieder aus sich selbst kommen und man registriert erst spät, dass der eigene Akku leer ist. Man überlebt im Lehrerberuf am besten, wenn man sein Fach beherrscht, wenn man Kinder und Jugendliche grundsätzlich mag, wenn man von Haus aus ein optimistischer Mensch ist, wenn man von der Möglichkeit des positiven Einwirkens auf junge Menschen überzeugt ist und, das wird manchen wundern, wenn man einen Lebensschwerpunkt außerhalb der Schule hat, also gerade nicht seine gesamte Energie in die Schule steckt. Wenn eine dieser Komponenten fehlt, steigt die Gefahr des vorzeitigen Ausbrennens dramatisch.

Lehrer und Erzieherinnen stellen die einzige Berufsgruppe, die im Regelfall nicht mit anderen Erwachsenen zusammenarbeitet, was die gelegentliche Starrheit dieser Spezies erklärt. Das Pendant sind Kinder und Jugendliche, für die alles neu ist und zum ersten Mal passiert, für den Erwachsenen die größte Chance und die größte Gefahr zugleich. Lehrer sind in der Institution Schule immer im Recht, wenn sie Aufmerksamkeit, Mitarbeit und Interesse für ihr Fach fordern, nicht zu verwechseln mit dem Gedanken, sie hätten immer recht in dem, was sie tun und sagen. Nicht selten streben außerdem Menschen in den Lehrerberuf, deren Fähigkeit zu emotionaler Offenheit und Empathie eher unterentwickelt ist, was ihnen bei hinreichender Intelligenz zwar einen Beruf sichert, sich aber auf Dauer doch als gravierender Mangel herausstellt, der zu vorzeitigem seelischen Verschleiß führt.

Erst nach diesen psychosozialen Faktoren kommen die hausgemachten Probleme. Als ein Beispiel hierfür will ich die Veränderungen der Rahmenpläne und den damit verbundenen Wechsel der didaktisch-methodischen Implikationen anführen. Vereinfacht geht es seit einigen Jahren um die Umsteuerung von Lernzielen zu Kompetenzen. Lernziele verlangen Eindeutigkeit in Aufgabenstellung und Ergebnis, was viele Jahre lang oberstes Kriterium in der Lehrerausbildung war und Generationen von Lehrern eingetrichtert wurde, was aber in den internationalen Vergleichsstudien, die auf Transfer ausgerichtet waren, zu den bekannten Defiziten geführt hat. Kompetenzen stellen stärker auf Kreativität und die Vielfalt von Lösungsstrategien ab, bringen die Methodik des Vorgehens stärker in das Bewusstsein von Lehrer und vor allem Schüler und verlangen einen offeneren Ansatz des Unterrichtens – das soll hier zur Skizzierung der Veränderungen genügen.

In der Industrie oder in der Dienstleistungswirtschaft wäre ein solcher Modell- und Paradigmenwechsel langfristig und vorab in Fortbildungsveranstaltungen vorbereitet und vermittelt worden. In der Berliner Schule gibt es bis heute viel zu wenige Angebote, weil die Lehrerfortbildung in Berlin insgesamt daniederliegt. Ältere Lehrkräfte erleben die Umsteuerung als Abwertung ihrer beruflichen Fähigkeiten, sie fühlen sich stark verunsichert, weil sie kaum eine Möglichkeit der Umsetzung sehen, aber (zu Recht) fürchten, daran gemessen zu werden. Von einer starken Verunsicherung zu Vermeidungsverhalten und Flucht in die Krankheit ist es nur ein kurzer Weg. Dass Reformen von oben in anspruchsvollen Tätigkeiten nur begrenzt wirksam sind, wenn es nicht gelingt, die Beteiligten innerlich mitzunehmen, ist eigentlich eine Binsenweisheit, sie wird aber im Berliner Schulbereich zu wenig beachtet.

Das Bild vom Lehrer hat sich allerdings in den letzten Jahren gewandelt. Wo vor einiger Zeit noch Neid auf vermeintliche Privilegien vorherrschte, greift jetzt Mitleid um sich, man wird bedauert ob seiner Aufgabe, weil der Öffentlichkeit insgesamt dämmert, dass mit der Jugend nicht alles so läuft, wie man es sich vorstellt. Ein Artikel über die Spezifika des Lehrerberufs wäre allerdings grob unvollständig, wenn am Ende nicht auch noch auf ein einmaliges Privileg hingewiesen würde: In keiner anderen Profession hat man die Chance, täglich mit jungen Menschen umzugehen, die noch offen für Neues sind, die beeinflussbar sind, weil sie nach Orientierung suchen, die über ihre Jugendlichkeit und spontane Kraft viel an die zurückgeben, die bereit sind, sich ein Stück auf sie einzulassen. Eigentlich und im Kern ist Lehrersein ein schöner Beruf, das muss einmal gesagt werden!

Wolfgang Harnischfeger

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