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Hände schütteln, aber jeweils getrennt. Die Lager im amerikanischen Wahlkampf sind ideologisch tief gespalten.

© dapd

Gastbeitrag: Ich gegen Wir: Die ideologischen Wurzeln des US-Wahlkampfs

Der ideologische Graben im US-Wahlkampf ist tief. Es geht um nichts weniger als um die Frage: Was ist Gerechtigkeit? Unser Autor, Philosophieprofessor an der Johns Hopkins Universität, zeigt, wer die Ideengeber von Obama und Romney sind.

Mit der Ernennung von Paul Ryan zum republikanischen Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten ist der amerikanische Wahlkampf in eine neue Phase eingetreten. Vor dieser Verkündigung bestand die Strategie des Romney-Lagers darin, die Schwäche der Wirtschaft in den USA hervorzuheben und Parallelen zu der Schieflage bei der Organisation der Olympischen Spiele von Salt Lake City zu konstruieren, bevor Mitt Romney dort die Leitung übernahm. Das Obama-Lager hatte bis dahin viel Geld dafür ausgegeben, das Bild von Romney als wirtschaftlicher Erlöser einzutrüben, indem es sein Geschäftsgebaren infrage stellte und damit wucherte, dass er sich weigerte, die Steuererklärung über sein enormes Privatvermögen (das auf 250 Millionen Dollar geschätzt wird) in Gänze offenzulegen. Die meisten Beobachter meinen, dass Romney diese Etappe des Rennens verloren hat.

Indem er Paul Ryan als seinen Vize ausgewählt hat, hat Romney den Fokus der Debatte nun verschoben: Weg von der Wirtschaft und seinen persönlichen Finanzen, hin zu den konkurrierenden Vorstellungen der beiden Parteien über die Prinzipien und die Ziele des Regierens.

Wer ist dieser Paul Ryan? Er ist ein 42 Jahre alter Kongressabgeordneter aus Wisconsin, der zurzeit dem Haushaltsausschuss vorsitzt. Der Hauptgrund dafür, dass er ein Blitzableiter ist, ist der „Ryan-Haushalt“, eine Vorlage für die Staatsausgaben des Bundes, die zwei Mal, 2011 und 2012, im Repräsentantenhaus abgestimmt und angenommen wurde. Die wichtigsten Elemente dieses Haushalts sind massive Steuersenkungen und die Restrukturierung zahlreicher staatlicher Leistungen. In dem Budgetvorschlag mit dem Titel „Der Weg zum Wohlstand“ heißt es, Ryans Ziel sei es, zu der begrenzten Staatlichkeit der Gründerzeit zurückzukehren und einen Plan vorzulegen, „der Amerika vor den Gefahren schützt, die Schulden, Zweifel und Niedergang in sich bergen“. Kritiker meinen, die Steuersenkungen seien ein Geschenk an die Wohlhabenden und die Kürzungen staatlicher Leistungen ein Anschlag auf das soziale Netz. Ryan kontert, die Steuersenkungen würden zu enormem Wachstum führen, indem sie die produktive Kraft der Geschäftswelt entfesselten und die Sozialleistungen seien, langfristig betrachtet, eben nur lebensfähig, indem man sie kürze. Der Druck, den sein Haushaltvorschlag auf die Armen ausübt, brachte ihm kürzlich die Kritik katholischer Bischöfe ein. Sie stellten seine Behauptung infrage, die Vorlage sei konform mit den Lehren der Kirche.

Bildergalerie: Fotos aus dem US-Wahlkampf

Es ist nicht besonders schwierig zu erkennen, wo Ryans Ideen herkommen, denn er ist ein treuer und – jedenfalls bis in die jüngste Zeit – auch bekennender Anhänger der libertären Schriftstellerin Ayn Rand. In einem Wahlkampf-Video von 2009 sagt er, dass ihre Romane zur Pflichtlektüre gehörten, weil sie „die Moralität des Kapitalismus“ erkläre. Rand hatte ebenfalls großen Einfluss auf Alan Greenspan, den langjährigen Chef der amerikanischen Zentralbank, der jene Deregulierung verantwortet hat, in der viele heute die Ursache für die Finanzkrise von 2008 sehen.

Ayn Rand erlaubt es den Republikanern, sich als Non-Konformisten zu fühlen

Rand, die 1905 geboren und in St. Petersburg aufgewachsen ist, war unter den ersten Frauen überhaupt, die eine Universität besucht haben. Sie studierte Geschichte und Philosophie. In die USA kam sie 1926 und wurde in Hollywood Drehbuchautorin. In ihren Bestsellern „Der ewige Quell“ und „Atlas wirft die Welt hin“ (letzterer verkaufte sich allein im vergangenen Jahr über 500 000 Mal) vertritt sie einen kompromisslosen Individualismus und kapitalistisches Ethos. Aus ihrer Erfahrung der bolschewistischen Revolution und der Lektüre von Nietzsches Ausführungen über den „letzten Menschen“ (das risikomüde, verweichlichte Gegenstück zum „Übermenschen“) entwickelte sie einen ausgeprägten Widerwillen gegen jeden, der seine Identität in irgendeiner Form über andere Menschen definiert. Ihre erste große Heldenfigur, Howard Roark, ist ein modernistischer Architekt, der gegen das klassizistische Establishment und für seine eigene Vision kämpft. Doch ihr Nonkonformismus hat auch eine verstörende Seite, wie etwa in dieser Passage, die es einem kalt den Rücken hinunterlaufen lässt: „Mrs. Wayne Wilmot existierte nicht als Person; es gab jene Hülle, die die Ansichten ihrer Freunde enthielt, die Postkarten, die sie gesehen und die Romane über Landadelige, die sie gelesen hatte; das war es, was er würde ansprechen müssen, dieses Un-Wesen, das ihn nicht hören und ihm nicht antworten konnte, taub und unpersönlich wie ein Wattebausch.“ Entgegen der marxistischen Lehre, dass Menschen die Summe ihrer sozialen Beziehungen sind, postuliert Rand, dass Menschen, die in ihren sozialen Beziehungen aufgehen, im Grunde gar keine Menschen sind.

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Warum ist das Ryan-Rand-Programm und die eng verwandte Tea-Party-Bewegung überhaupt in den USA beliebt? Skeptiker werden Ihnen sagen, das Phänomen erkläre sich durch die Gier der Reichen oder sei eine Reaktion der schwindenden Dominanz weißer Männer oder sei dem Wunsch nach einem Sündenbock für die von George Bush geschaffenen Probleme geschuldet. Doch das Staatsdefizit und die Gesundheitsversorgung der Armen und Älteren sind echte Probleme, so dass es zumindest scheinbar plausible Gründe gibt, einen Wandel zu fordern. Die Republikaner sagen gern, die Demokraten würden die USA zu Europa machen, ja sogar zu Griechenland, und dass nur die Republikaner die USA vor einer lähmenden Schuldenkrise bewahren können. Sie argumentieren gegen „ungehemmtes“ Geldausgeben für Sozialleistungen, die die Faulen bevorteilen, zuungunsten der hart arbeitenden Steuerzahler und des Wirtschaftswachstums.

Aus Rands Büchern lernen wir, dass unsere Probleme verschwinden werden, wenn wir den Wert starker und mutiger Führungspersönlichkeiten erkennen, die die parasitären Verteidiger des Kollektivguts bekämpfen. Mithilfe des Rand’schen Ethos können die Ryan-Unterstützer behaupten, sie seien revolutionär, mehr noch: heroisch, denn sie kämpfen gegen das, was sie als die etablierte egalitäre Ordnung sehen. Sie behaupten, die Nutznießer von Medicaid, Lebensmittelgutscheinen und anderen Leistungen seien ganz einfach Loser, die ihre verantwortlicheren Mitbürger beständig anschnorren.

Die engstirnige Verbissenheit dieses Programms hat der Grand Old Party einige Probleme eingebracht. Das größte Problem (dasjenige, das Ryan dazu gebracht hat, seiner Rand-Anhängerschaft abzuschwören) ist, dass Rand eine Atheistin war, die mit der Schablonenhaftigkeit und Gottgläubigkeit des sozial-konservativen Flügels der Republikaner nichts zu tun haben wollte. Noch wichtiger aber vielleicht ist, dass die Stärke von Ryan-Rand Romney für seine eigene Kandidatur überflüssig erscheinen lässt. Er mag den Ryan-Plan übernommen haben, er mag große Brocken des Rand’schen Ideals verkörpern, aber um sich als Anführer in diesem Kreuzzug zu verkaufen, fehlt im die Überzeugung. Im Vergleich zu dem libertären Feuer, mit dem er spielt, erscheinen seine eigenen Ansichten wie dünner Rauch.

Warum Obama es schwer hat, seine Vorstellung von Gerechtigkeit zu verkaufen

Die größte Hoffnung der Grand Old Party bei dieser Wahl liegt in den Kommunikationsschwierigkeiten der Demokratischen Partei. Der Obama, der 2008 begeisterte, hat Probleme damit, eine neue Sprache zu finden, mit der er Kapital aus der moralischen Überlegenheit ziehen kann, die seine Partei für sich reklamiert. Diese moralische Überlegenheit ist in der Philosophie von John Rawls formuliert, „Gerechtigkeit als Fairness“, eine zentrale Idee aus Rawls Hauptwerk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ von 1971. Rawls vertrat ein System der Gerechtigkeit, das er aus einem Gedankenspiel entwickelte, einer Situation, in der niemand seinen Anteil am Reichtum oder am Glück kennt. In Rawls Welt sind Ungleichheiten nur dadurch zu rechtfertigen, dass sie einen Beitrag zur Verbesserung der Situation der am meisten Benachteiligten leisten. Der Diskurs über die Fairness ist ein wichtiger Bestandteil von Obamas Wahlkampf, aber es ist nicht der Funke, der seine persönliche Erfolgsgeschichte im Jahr 2008 auslöste. Junge Amerikaner sind bekannt dafür, Gleichheit gut zu finden, allerdings nur in Reinform, und Obama hat sich in der Zwischenzeit zu sehr die Hände schmutzig gemacht, um noch mit einer geradlinigen idealistischen Botschaft viele Anhänger zu gewinnen. Er hat eine ganz ordentlichen Job gemacht, als es darum ging, die Ungerechtigkeit der Ansichten der Grand Old Party hervorzuheben, er braucht aber ganz klar eine positivere Botschaft, um die schwache Erholung der Wirtschaft zu überwinden. Darin liegt ein größeres Problem für die Demokraten. Sie brauchen ein belastbares moralisches Ethos, um mit ihrem Gleichheitsanliegen bei den Wählern zu landen. Aber es ist mehr als offen, ob der aufklärerische Humanismus von Rawls (und seinem Helden Immanuel Kant) verfangen wird. Einige Demokraten gehen davon aus, dass jeder, der nicht negativ beeinflusst wird, von der Idee der Fairness überzeugt ist; aber das ist naiv. Fairness ist ein abstraktes Ideal, das ausgefüllt werden muss durch ein Tableau von Werten und Haltungen, an denen es aus einer Reihe von Gründen mangelt. In den USA kann man derzeit gerade noch das Argument stark machen, dass Fairness für die Amerikaner untereinander gelten soll, indem man sich für eine egalitäre Politik auf die nationale Einheit und Solidarität beruft. Aber die Republikaner und der konservative Sender Fox News haben es geschafft, Obama als Spalter darzustellen. Obwohl die meisten neutralen Beobachter Obama als gemäßigten Pragmatiker wahrnehmen, brandmarken die Republikaner ihn als Sozialisten und lassen so die Forderung nach politischer Einheit ins Leere laufen. Seine Politik der Fairness wird als Versuch verstanden, von den Erfolgreichen und Wohlhabenden zu stehlen, um das Versagen der Armen zu finanzieren.

Bildergalerie: Fotos aus dem US-Wahlkampf

Das auffälligste Merkmal der gegenwärtigen politischen Gefechtslage ist, dass sich in den vergangenen 20 Jahren die moralische Grundierung der politischen Lager verändert, ja, sogar umgekehrt hat. Früher waren es die Demokraten, denen ein exzessiver Individualismus vorgeworfen wurde. Heute sind es die Republikaner, die die traditionelle Moral gegen abstrakte individuelle Rechte eingetauscht haben, während sich die Demokraten als Vertreter substanzieller moralischer Werte präsentieren. Die Republikaner setzen heute auf die Kraft des innovativen Individuellen, während die Demokraten von der Bedeutung von Zusammenhalt und Gemeinwesen reden. Beispielhaft für die neue Ausrichtung der Republikaner ist das Ayn-Rand-Center for Human Rights, dessen Vorsitzender die Partei ermuntert, für die Abschaffung der staatlichen Krankenversicherung zu kämpfen, gegen die Sozialversicherung und gegen das öffentliche Bildungssystem.

Allerdings gerät die republikanische Betonung des Individualismus mit dem konservativen Grundimpuls, die bestehende Ordnung der Wirtschaft zu erhalten, in Konflikt. Diese Diskrepanz wurde erst vor kurzem deutlich, als sich ein Mitglied von Ryans Lieblingsband „Rage against the Machine“ von dessen Politik distanzierte. Ryan gefällt vermutlich die trendige Musik und die revolutionäre Aura von „Rage against the Machine“. Man könne jedoch diese Aura, schrieb Tom Morello, der Gitarrist der Band, in einem Gastbeitrag für „Rolling Stone“, nicht einfach mit einem politischen Programm verquicken, das die „privilegierte Elite“ noch weiter bevorzugt. Die Wut des Künstlers richtet sich gegen Machtverhältnisse, die den „Joe Average“, den Normalbürger, unten halten. Ryan versucht diese Wut zu instrumentalisieren, um die Macht der Reichen zu legitimieren und das politische Unterfangen, die Unterprivilegierten zu ermächtigen, zu delegitimieren. Die Wut von Rand und Ryan ist auf die gerichtet, die Folgendes nicht verstehen: Genau wie die Reichen ihren Reichtum verdienen, verdienen die Armen ihre Armut. Entweder hält man das für ein einleuchtendes moralisches Argument oder für einen kranken Witz. Es wäre schön, schon heute mit Gewissheit sagen zu können, was die Amerikaner davon halten. Dafür müssen wir aber die Wahl im November abwarten.

Dean Moyar ist Associate Professor of Philosophy an der Johns Hopkins Universität und ab dem Herbst Fellow an der American Academy in Berlin. Aus dem Englischen übersetzt von Anna Sauerbrey und Moritz Schuller.

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