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Gastkommentar: Deutschland misstraut seinen Bürgern

Vorratsdatenspeicherung: Das Karlsruher Urteil ist kein Grund zum Jubeln.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung ist kein Grund zum Jubeln. Das Urteil hat den Gegnern der Vorratsdatenspeicherung zwar einen spektakulären Erfolg beschert – langfristig profitieren jedoch ihre Befürworter.

Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber zum wiederholten Male grobe Missachtung der Grundrechte bescheinigt und die derzeitige gesetzliche Ausgestaltung der Vorratsdatenspeicherung für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Dennoch hält das Verfassungsgericht die in der EU-Richtlinie vorgesehene Speicherung einer Vielzahl von Datenspuren grundsätzlich für zulässig.

Das Gericht beschreibt dabei in eindrucksvollen Worten die Gefahren der Vorratsdatenspeicherung und die Schwere des durch sie bewirkten Grundrechtseingriffs. Es handle sich um einen Eingriff in die Rechte der Bürgerinnen und Bürger, „mit einer Streubreite, wie sie die Rechtsordnung bisher nicht kennt“. Die Speicherung sei geeignet, „ein diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins hervorzurufen, das eine unbefangene Wahrnehmung der Grundrechte in vielen Bereichen beeinträchtigen kann.“

Es hätte dem Sinn und der historischen Funktion der Grundrechte entsprochen, wenn das Bundesverfassungsgericht aus den präzise herausgearbeiteten Gefahren auch die verfassungsrechtlich gebotenen Konsequenzen gezogen hätte. Das Bundesverfassungsgericht hätte zu dem Ergebnis gelangen müssen, dass eine vorsorgliche und anlasslose Speicherung von Telekommunikationsdaten, wie sie die Europäische Union fordert, unter der Herrschaft des Grundgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland nicht zu verwirklichen ist.

Denn die Grundrechte des Grundgesetzes sind Abwehrechte gegen den Staat. Sie stellen institutionalisiertes Misstrauen gegen einen unvernünftigen Staat dar. Mit der Vorratsdatenspeicherung hingegen wird dieser Grundsatz in sein Gegenteil verkehrt. Weil es für die Datenspeicherung keines Verdachts bedarf, wird ein prinzipielles Misstrauen des Staates gegen seine Bürger institutionalisiert: Alle Bürger werden unter Generalverdacht gestellt.

Das entsprach auch der bisherigen Linie des Verfassungsgerichts. Es ging bislang in ständiger Rechtsprechung davon aus, „dass dem Staat eine Sammlung personenbezogener Daten auf Vorrat zu unbestimmten oder noch nicht bestimmbaren Zwecken verfassungsrechtlich strikt untersagt ist“. Diese Richtschnur wird im Urteil formal noch einmal bekräftigt, im Ergebnis hat das Verfassungsgericht sich jedoch von ihr verabschiedet und nimmt eine höchst bedauerliche Kehrtwende vor. Der argumentative Aufwand, den das Verfassungsgericht hierfür betreibt, ist immens. Das Verfassungsgericht bedient sich Begründungsmustern, die so spitzfindig sind, dass man schon Jurist sein muss, um sie zu verstehen. Überzeugend sind sie indes nicht.

Es wird derzeit viel über die möglichen Motive des Gerichts für diesen Richtungswechsel spekuliert. Und tatsächlich lag selten das Motiv eines Urteils so offensichtlich zutage. Die Entscheidung ist nicht nur juristisch, sie ist offenbar auch mit einer Art politischer Folgenanalyse des Gerichts zu erklären. Die Richter scheuten den europäischen Eklat, wenn sie die Vorratsdatenspeicherung ganz verboten hätten.

Die Langzeitwirkungen des Urteils sind indes verheerend. Selbst wenn die Vorratsdatenspeicherung jetzt auf europäischer Ebene gekippt werden sollte, worauf ihre Gegner hoffen und wofür es auch einige Signale gibt, hat das Urteil unser Grundgesetz dauerhaft beschädigt. Eine absolute Grenze bei der Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit ist zulasten der Freiheit eingerissen worden. Das Grundgesetz ist ein Stück weiter für die Sicherheitslogik à la Schily, Schäuble und Co. geöffnet worden.

Der Autor ist Bundesrichter a. D., stellvertretender Vorsitzender des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags und Justiziar der Fraktion Die Linke.

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