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Gastkommentar: Die Bulette als Kündigungsgrund

Man könnte sich fast von jedem Mitarbeiter trennen – wenn man nur wollte

Die aktuellen Empfehlungen der OECD zur Reform des Kündigungsschutzes in Deutschland treffen die öffentliche Meinung an einem wunden Punkt. Insbesondere die geltende Rechtsprechung in Sachen Bagatellkündigungen steht seit Monaten in heftiger Kritik. Im Bundestag liegt derzeit ein Gesetzentwurf zur Änderung des geltenden Rechts vor. Dafür gibt es gute Gründe. Die Auffassung der Gerichte kollidiert nicht nur massiv mit dem Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen, sondern hat auch mit der täglichen Arbeitsrealität in den Unternehmen nicht mehr viel zu tun.

Wie sieht die Praxis aus? Wer im Büro sein privates Handy auflädt, begeht Stromdiebstahl. Wer in der Mittagspause vom Büroapparat zu Hause beim kranken Partner anruft, betrügt seinen Arbeitgeber. Ob Reisekosten, Arbeitszeit oder Büromaterial, praktisch kein Mitarbeiter hat in seinem Berufsleben nicht schon einmal einen arbeitsrechtlichen Verstoß begangen, der die Konsequenz der fristlosen Kündigung ermöglichen würde. Und unter erfahrenen Personalverantwortlichen ist es ein offenes Geheimnis, dass man sich auf diese Art und Weise von jedem Mitarbeiter trennen könnte, wenn man nur wollte. Tatsächlich passiert in den meisten Fällen gar nichts. Umso interessanter gestalten sich natürlich diejenigen Fälle, in denen doch etwas passiert. Hier drängt sich dem Gekündigten unweigerlich der Verdacht der Willkür, bisweilen auch der Boshaftigkeit auf.

Die juristische Begründung für eine Bagatellkündigung lautet, dass dem Arbeitsvertrag ein besonderes Vertrauensverhältnis innewohnt, das durch ein Vergreifen am Eigentum des Arbeitgebers unwiederbringlich zerstört wird. Dadurch entfällt nach gültiger Rechtsmeinung die wesentliche Grundlage des Arbeitsverhältnisses. Das ist reinste Theorie. Denn die verspeiste Bulette oder das privat geführte Telefonat mögen zwar der äußere Anlass für eine Kündigung sein, der tatsächliche Grund für einen Vertrauensverlust sind sie allerdings nie. Vielmehr muss das Vertrauen in den Mitarbeiter oder seine Arbeitsleistung schon weitaus früher verloren gegangen sein. Die rein formaljuristische Argumentation seitens eines Arbeitgebers ist in dieser Situation deshalb weder ehrlich noch transparent und führt so zwangsläufig zu Unverständnis, Verärgerung und immer wieder zu Prozessen. Denn auch der Arbeitnehmer ist sich bewusst, dass die fristlose Kündigung wegen des vermeintlich verloren gegangenen Vertrauens tatsächlich einfach nur die billigste, schnellste und bequemste Lösung ist, ihn los zu werden.

Man kann einem Unternehmen grundsätzlich die betriebswirtschaftliche Herangehensweise nicht verdenken, man kann in solchen Fällen allerdings nicht dazu raten. Verantwortliche Unternehmer und Manager haben immer das Ganze im Blick. Eine Bagatellkündigung bleibt weder den anderen Mitarbeitern, und mittlerweile auch der Öffentlichkeit nicht mehr verborgen. Sowohl für das interne Betriebsklima und das im Alltag tatsächlich notwendige Vertrauen als auch für das externe Ansehen eines Unternehmens sind solche Fälle nicht dienlich. Insbesondere in einer Zeit, in der Unternehmen händeringend nach Fachkräften suchen und sich in der Öffentlichkeit mit teuren Werbemaßnahmen als attraktive Arbeitgeber darstellen.

Wie Mitarbeiter sich verhalten, hat viel mit der Vorbildfunktion zu tun, die Führungskräfte ausüben. Der Mensch ist manchmal sehr einfach gestrickt. „Was andere können, kann ich auch“ ist eine häufige Begründung für Bagatellediebstähle. Deshalb sind Vorbilder wichtig, die zeigen, dass man bestimmte Dinge bewusst unterlässt, obwohl man sie tun könnte. Dazu zählt für mich auch die Bagatellkündigung. Man stelle sich nur vor, dass hoch qualifizierte Arbeitnehmer plötzlich auf die Idee kämen, den Spieß umzudrehen. Man kann mit juristischer Spitzfindigkeit eine Reihe von Fällen konstruieren, in denen der Arbeitgeber seinen Arbeitnehmer betrügt. Was etwa, wenn plötzlich die ersten Spitzenkräfte wegen nicht bezahlter Überstunden oder falscher Lohnabrechnung fristlos kündigen, um schnell einem verlockenderen Angebot folgen zu können?

Bevor nun aber ein juristisches Hase-und-Igel-Spiel angezettelt wird, sollte sich der Gesetzgeber lieber grundsätzlichen Gedanken über eine sinnvolle Neuregelung des gesamten Kündigungsschutzes machen, die den Erfordernissen der modernen Arbeitswelt entspricht. In Deutschland führen Diskussionen dieser Art leider immer sehr schnell zur Auseinandersetzungen über ideologische Werte, anstatt die Probleme pragmatisch zu lösen. Wenn jetzt der Bundestag über dieses Thema diskutiert, sollte er deshalb keine Werte-, sondern eine Nützlichkeitsdiskussion führen. Unabhängig davon haben Arbeitnehmer wie Arbeitgeber immer die Möglichkeit, sich einfach vorbildlich verhalten.

Der Autor ist Geschäftsführer der internationalen Personalberatung Mercuri Urval in Deutschland.

Albert Nussbaum

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