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Gastkommentar: Kulturelle Bildung hilft bei der Integration

In einem Meer der Kulturen müssen wir also 1. sprechen lernen, unsere eigene Herkunft begreifen, 2. hören lernen, den anderen zu begreifen versuchen, und 3. miteinander reden lernen.

Nach einem Sommer der zum Teil wirren Diskussion über Integration, Angst und Kulturpessimismus, ist es gut, uns unser selbst wieder zu vergewissern. Es ist Herbst, die Kinder, um deren Zukunft wir uns leider vor allem saisonal Sorgen machen, sind wieder in der Schule oder Kita, die aktuell Studierfähigen, deren Quote zu niedrig ist, in den Universitäten, und bei aller Unterschiedlichkeit der Lebensverhältnisse stehen wir gemeinsam in Erwartung der nächsten unbesiegbaren Eisschollen.

Doch nicht nur auf dem Eis ist es sinnvoll, genauer hinzusehen. Die in Berlin besonders augenfällige Tatsache, dass wir von Kulturen nur so umzingelt sind – deutscher, grüner, Zehlendorfer, türkischer, autonomer, Lichtenberger, schwäbischer, Friedrichshainer und nostalgischer, um nur einige zu nennen – lässt die Suche nach einer von manchen beschworenen Leitkultur dem schweifenden Auge zum Bilderrätsel geraten. Es erscheint, wie auf Rilkes Karussell, „dann und wann ein weißer Elefant“.

Sagt man „Leitkultur“, liegt die Betonung auf „Leit“, nicht auf „Kultur“. Aber könnte es sein, dass unser erfolgreiches Gesellschaftsmodell – bei allen Blindheiten und aktiven Problemverdrängungen – erst über dieses zweite Wort möglich wird? Spricht man von kultureller Bildung, spricht man von Befähigung: zu kommunizieren, zu verstehen, auch Ungesagtes zu deuten. Doch findet sich zwischen Gesagtem und Ungesagtem eine weitere Kategorie, das Nichtsagbare. Nichts ist so stark wie das Zeichen, das ich setze, wenn ich mich dem Nichtsagbaren des anderen aussetze, Musik, Bildern oder Sprachbildern – wobei das Verstehen nur die Begleiterscheinung, der Versuch zu verstehen aber die Hauptsache ist. Ich muss auch nicht zustimmen, wie viele meinen, aber wissen wollen, worum es geht. Zustimmung wie Ablehnung sind wertlos, wenn man die infrage stehende Sache nicht zumindest zu durchdringen versucht hat.

Uns mit diesen Herausforderungen früh zu beschäftigen, haben wir verschiedene Mittel, in der Familie, in Schulen und Gemeinden, Sportverbänden, Parteien und Medien. Zentral aber sind die Universitäten: ob in Physik oder Sinologie, die offenen Fragen werden erst nach und nach deutlich. Ob Kunst, Musik, Schauspiel oder Design, erst die virtuose Überwindung der handwerklichen Schranke eröffnet das weite Feld bedenkenswerter Aussagen.

In der Mitte kulturellen Verstehens aber steht das Interesse, die früh geweckte Neugier. Sie ist die Quelle des Denkens und der dazu notwendigen Energie. In einem Meer der Kulturen müssen wir also 1. sprechen lernen, unsere eigene Herkunft begreifen, 2. hören lernen, den anderen zu begreifen versuchen, und 3. miteinander reden lernen. Unendliche Mühe ist notwendig, die eigene kulturelle Herkunft zu verstehen, aber Sprüche über Identitäten bleiben ohne diese Mühe für alle Ethnien leeres und gefährliches Gefasel.

Für gelungenes Reden, Hören und Verstehen gibt es in Berlin viele gute große, und auch ganz kleine Beispiele. Hier nur eines, und die UdK Berlin wie der Fonds Kulturelle Bildung können stolz sein, zu seinem Gelingen beigetragen zu haben. In der Anna-Lindh- Schule im Wedding begann 2005 das Projekt „Sprachlos“. Es erzählen 16 Theaterpädagogen in 21 Schulen und sieben Kitas wöchentlich eine Stunde Märchen und Mythen aus Deutschland und anderen Herkunftsländern der Kinder. Es wird zugehört, dann nacherzählt, dann Eigenes erfunden, von bisher 5000 Kindern. Die Lehrer sagen, dass die Konzentrationsfähigkeit deutlich gesteigert, der Wortschatz vergrößert und das Weltwissen erweitert wurde. Zudem böten die gemeinsam gehörten Märchen Anlass, über menschliches Handeln, also ethische Fragen, auch in anderen Stunden nachzudenken.

Es herrscht Ruhe wenn die Kinder erleben, wie es ist, wenn anderen ein Märchen ihrer Großmutter gefällt. Sie lernen Achtung, Stolz und gemeinsame Sprache mit Mitteln der Kunst.

Der Autor ist Präsident der Universität der Künste Berlin.

Martin Rennert

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