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Bundeskanzlerin Angela Merkel.

© dpa

Gastkommentar: Merkels Europapolitik ist Versailles ohne Krieg

Kanzlerin Merkel betreibt gegenüber den Schuldnerstaaten in der EU eine Politik der Strenge. Warum sie damit den deutschen Interessen schadet.

"Ich bin der Überzeugung, dass die Menschen in unserem Land unbedingt verstehen müssen, wie komplex die Situation ist, anstatt sich von Vorurteilen, Wut oder starken Gefühlen leiten zu lassen. Die Zukunft der ganzen Welt hängt davon ab, dass wir die Situation richtig einschätzen. Was sind die dominierenden Faktoren? Was muss getan werden?"

So sprach US-Außenminister George C. Marshall. Am 5. Juni 1947 hielt er seine große Rede. Amerika wollte weg von seiner Politik der Reparationsforderungen und des ökonomischen In-die-Knie-Zwingens eines Landes, das doch längst am Boden war. Stattdessen redete hier ein US-Spitzenpolitiker von Wiederaufbau. Wenn Ludwig Erhard der Vater des deutschen Wirtschaftswunders war, dann war Marshall der Großvater. Ohne diesen strategischen Schwenk von hart auf weich hätte Deutschland den Weg zurück zum Wohlstand niemals finden können.

Wir wissen das. Wir rechnen den Amerikanern ihre Hilfe zur Selbsthilfe hoch an. Aber wir lernen daraus nichts für die Lösung der Probleme unserer Zeit. Die deutsche Regierung jedenfalls geht mit wachsender Entschlossenheit den anderen Weg. Sie versucht, die am Boden liegenden Schuldenstaaten noch tiefer nach unten zu zwingen. Sparen und bestrafen, das sind die Schlüsselwörter der Kanzlerin. Auf dem CDU-Parteitag rühmte sie sich, den Griechen "strenge Bedingungen" diktiert zu haben. Gestern kündigte sie erneut an, dass private Gläubiger mit Kreditausfall rechnen müssten, womit die Zinslast für die betroffenen Staaten sich weiter erhöht. Merkel bleibt hart: "Die Strenge ist notwendig", sagte sie.

Natürlich haben Griechen, Iren, Portugiesen und auch die Spanier über ihre Verhältnisse gelebt. Sie haben geschummelt, sie haben sich und uns allen Illusionen gemacht, sie haben einen schläfrigen Staat genährt. Alles wahr! Alles richtig! Und die privaten Banken haben ihnen dabei geholfen. Auch das ist unbestreitbar.

Wir können daran weiter unser Mütchen kühlen. Aber Schadenfreude begründet kein deutsches Interesse. Unsere Interessen - die Rückzahlung der Schulden, die Stabilität der Banken und der Erhalt der Euro-Zone - werden wir so niemals durchsetzen.

Die aufgezwungenen Sparpakete und die Drohung gegenüber den Gläubigern werden sogar das Gegenteil bewirken: Am Ende haben die betroffenen Staaten mehr Schulden, die Banken leben in größter Unsicherheit, und Europa fällt zurück in das, was es lange war: ein Ort, dessen Bewohner sich auf den Tod nicht ausstehen konnten.

Die Gesetze der Ökonomie lassen sich nicht mit auftrumpfender Rhetorik außer Kraft setzen. Erstens: Die den Griechen und demnächst wohl auch den Iren verordnete Sparpolitik kann das gewünschte Ziel - Schuldenabbau - nicht erreichen. 13 Prozent des Sozialprodukts sollen die Griechen bis 2014 einsparen. Das wäre, wenn es gelänge, die größte Sparleistung, die je ein Staat in Friedenszeiten vollbracht hätte. Übersetzt auf unsere deutschen Verhältnisse würde das bedeuten: Abschaffung des Kindergeldes, Auflösung der Bundeswehr, Zurückfahren des Bundeszuschusses für die Sozialversicherungen auf null bei gleichzeitiger Verdoppelung der Lohnsteuer. Gesamtvolumen: 325 Milliarden Euro. Wer die Schuldenstaaten zum Protektorat erklärt, wird Unfriede ernten. Die Schulden von Griechen und Iren sind groß, aber ihr Stolz ist größer.

Zweitens: Gerade durch eine solche Sparpolitik werden die Voraussetzungen für eine Gesundung der Länder, also für Wachstum und ein Wiedererstarken der Volkswirtschaften, nicht geschaffen, sondern zerstört. Die griechische Wirtschaft wächst bereits nicht mehr. Zusammen mit den anderen Schuldnerstaaten ergibt sich ein Bild, von dem der neue Unicredit-Chef gestern zu Recht sagte, dass es ihm Alpträume bereite. Die 72 Millionen Griechen, Iren, Spanier und Portugiesen schulden den europäischen Banken mittlerweile 1,5 Billionen Euro. Das entspricht dem Fünffachen des deutschen Bundeshaushalts. Selbst wenn die 30 Dax-Konzerne die Schuldentilgung übernehmen würden, wäre es nicht zu packen: Sie müssten dafür ein halbes Jahrhundert ihre gesamten Gewinne abliefern. Das bedeutet: Die In-Not-Geratenen können sparen, bis sie blau sind, den Mühlstein am Hals werden sie nicht los. Im Gegenteil: Ihre Volkswirtschaften werden schwächer, die Mühlsteine größer, am Ende fallen alle zusammen in die Grube. Niemand weiß besser als wir Deutschen, dass es zwei Arten gibt, mit Verlierern umzugehen. Es gibt die Variante Versailles, als man den Kriegsverlierer mit Reparationszahlungen ökonomisch klein hielt. Damit hatte unser Land nicht nur den Krieg, sondern auch noch seine Zukunft verloren. In der Fäulnis dieses Unterwerfungsfriedens wuchsen die politischen Sumpfblüten. Was folgte, war ein neuer Krieg.

Variante zwei ist jener friedvolle Frieden, der sich mit dem Namen von US-Außenminister Marshall verbindet. Auf seinen Vorschlag hin wurde im besiegten Deutschland ein Kreditprogramm gestartet, das dem Wiederaufbau des Landes diente. Marshall sagte damals: "Unsere Politik richtet sich nicht gegen ein Land, sondern gegen Hunger, Elend, Verzweiflung und Chaos. Ihr Ziel ist die Wiederbelebung der Weltwirtschaft." Das genau sollte das Ziel der deutschen Politik auch sein: Wiederbelebung. Der Süden Europas braucht keine Sozialtransfers, sondern Direktinvestitionen und ein neues Unternehmertum. Das lässt sich zwar nicht anordnen, aber es lässt sich stimulieren.

Vergleichen heißt nicht gleichsetzen: Merkels Politik mündet nicht im Krieg, aber sie führt zu Unsicherheit und Unfrieden. Angela Merkel ist stark gegen die Schwachen. Der Weg, den sie einschlägt, führt nicht nach Europa.

Gabor Steingart ist Chefredakteur des Handelsblatts.

Gabor Steingart

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