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Gastkommentar: Morgens um 10 auf dem Fehrbelliner Platz

Warum verlassen so viele Ausländer Paris, London oder New York, diese bewährten Schönheiten, um sich zwischen Mauern ohne jede Anmut einzurichten?

Man schlendert über den Markusplatz in Venedig. Die Tauben, die hellen Marmorplatten, der Blick in die Weite. Man bewundert die Place de la Concorde in Paris. Der Obelisk, die Noblesse seiner Konturen, die langgezogenen Linien der Jardins des Tuileries, der Louvre, der sich in der Ferne abzeichnet. Man hat unter Platanen versteckte kleine Plätze entdeckt, noble Plätze, elegante Plätze, geschichtsträchtige Plätze, harmonisch oder bizarr geformt, barock, klassisch oder einfach gemütlich. All diese europäischen Plätze, auf denen man sich abends zusammenfindet, um zu trinken und sich zu unterhalten. Man steht noch im Bann ihres Charme, man ist verzaubert von so viel Schönheit.

Und dann, als man aus den Ferien kommt, findet man sich an einem herrlichen Sommermorgen mitten auf dem Fehrbelliner Platz. Die Landung in Berlin könnte brutaler nicht sein.

Seit Jahren fahre ich mehrmals in der Woche über den Fehrbelliner Platz. Jedes Mal fällt mir auf, wie schrecklich er aussieht. Und schon vor langer Zeit habe ich ohne jedes Mitgefühl festgestellt, dass das einer der hässlichsten Plätze ist, die ich kenne. Dieser Ring grauer und massiver Gebäude, die in der schwarzen Zeit Deutschlands gebaut wurden, und in der Mitte diese unmögliche U-Bahnstation. Mit ihren großen Zylindern, die aus der Erde ragen wie Fabrikschornsteine, dazu sein rotes Badezimmermosaik. Die U-Bahnstation ist ein bisschen das Centre Pompidou für Arme. Seine missglückte, mickrige Version. Der Geruch nach U-Bahn quillt aus den Bodengittern und vereint sich mit dem säuerlichen Aroma der Currywurst und den Schwaden von Engel’s Imbiss. Heute Morgen machen zwei Arbeiter in Latzhose eine Kaffeepause und ziehen an ihren Zigaretten. Die Sonnenschirme sehen aus, als sei ein Ausstatter beauftragt worden, das Zentrum des Platzes im Stil der 70er zu dekorieren. Die lassen an dicke, verblühte Tulpen denken, erschöpft und mit hängenden Köpfen. Und dann die Berliner, die über den Bürgersteig ziehen! Ein Büroangestellter in Shorts, Sandalen und weißen Socken. Eine Frau im Blumenkleid mit knallblauen Clogs. Sind sie Statisten in einem Film, der in längst vergangenen Zeiten spielt?

Den ganzen Sommer über hat man mir in der Schweiz, in Frankreich, in England mit ekstatischem Mund und leuchtenden Augen versichert, Berlin sei die aufregendste Stadt Europas, ein Traum, und laut diesen Enthusiasten vielleicht die attraktivste Stadt der Welt. Den ganzen Sommer wurden mir Loblieder auf meine Adoptivstadt gesungen. Und nun hat mich der Zufall um 10 Uhr morgens auf den Fehrbelliner Platz verschlagen, und ich frage mich: Was finden die nur alle an dieser deutschen Hauptstadt? Wieso bringt sie die jungen Leute von London bis Tel Aviv zum Träumen? Warum beschließen so viele Ausländer, hierher zu ziehen? Warum verlassen sie Paris, London oder New York, diese bewährten Schönheiten, um sich zwischen Mauern so ohne jede Anmut einzurichten? Denn ich habe zu erwähnen vergessen, dass der Fehrbelliner Platz bei Weitem nicht der Schlimmste ist. Was gibt es für hässliche Plätze in Berlin! Ich muss zugeben, dass dieser Enthusiasmus mir plötzlich unerklärlich ist. Sicher könnte ich ihn leichter verstehen, wenn ich auf dem angesagten Kollwitzplatz wäre. Aber der Fehrbelliner Platz? Verdient er überhaupt den Namen „Platz“? Ist das nicht viel eher ein Engpass, eine Art Korridor, ein Durchgang – laut, offen, stressig?

Wenn man aus dem Urlaub kommt, ist man noch ein paar Tage im Zustand der Gnade, aus dem man einen neu belebten, abgehobenen, etwas fremden Blick auf die eigene Stadt wirft. Ein paar kurze Minuten habe ich mich gefragt, was ich seit so vielen Jahren eigentlich hier mache. Und dann, unter den Platanen des Parkcafés, sanft gestreichelt vom Murmeln der Gespräche, bin ich dem Zauber wieder verfallen. Plötzlich hat der Anblick der Leute um mich herum mich erheitert, und die Missgestalt der U-Bahnstation hat mich gerührt. Mit einem Mal kam mir der Markusplatz zu perfekt vor, die Place de la Concorde erstarrt in ihrer Symmetrie. Das morgendliche Chaos des Fehrbelliner Platzes, so sagte ich mir, das ist das wahre Leben, in vollem Gang. Schluss mit den Ferien und den Träumen von anderen Orten. Die Zweifel waren verflogen. Berlin hatte wieder Besitz von mir ergriffen.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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