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Gastkommentar: Pro Reli = pro Privileg

In den vergangenen Wochen ist der Eindruck entstanden, dass alle Evangelischen oder religiös Interessierten selbstverständlich für Pro Reli votieren würden. Das ist jedoch nicht zutreffend. Die Kirchen in Berlin werden zu Agitatoren einer Restauration

Als evangelischer Pfarrer bin ich zwar für Religion und freiwilligen Religionsunterricht, aber nicht für das Konzept der Initiative Pro Reli.

Die Initiative beklagt, dass der Religionsunterricht oft in den Randstunden stattfindet. Glaubt denn jemand wirklich, dass bei einer anderen rechtlichen Regelung diese Problematik ausgeräumt wäre? Die Praxis in den alten Bundesländern zeigt, dass es die Randstunden-Problematik auch dort gibt, wo der Religionsunterricht „ordentliches Unterrichtsfach“ ist.

Die Initiative kritisiert zudem, dass die Teilnahme am Religionsunterricht seit der Einführung von Ethik „rapide“ zurückgegangen sei. Seit kurzem liegen diesbezügliche Zahlen auf dem Tisch. Die Teilnahme am Religionsunterricht ist kaum zurückgegangen. Der ganz leichte Rückgang ist verständlich angesichts des Vorteils, dass im Ethikunterricht jetzt alle Schüler mit den Themenbereichen Ethik und Religion konfrontiert werden.

Das dritte Argument der Initiative lässt ahnen, wohin die Reise gehen soll. Befürchtet wird, dass die Kirche weniger Geld für die Einstellung von Katechetinnen zur Verfügung stellen kann. Deswegen, so verstehe ich es, könne die „Tradierung christlicher Bildung“ nicht mehr alleine eine kirchliche Angelegenheit bleiben. Hier soll der staatlich finanzierte Religionsunterricht einspringen. Der soll rechtlich so sicher und für die Schüler rechtlich so verpflichtend werden, dass die Kirche sich fest auf ihn verlassen und in diesem Vertrauen die eigene innerkirchliche Sozialisation guten Gewissens abbauen kann.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es in Deutschland zu einer großen Restauration: Die Neuansätze der Bekennenden Kirche wurden nicht weitergeführt, vielmehr knüpfte man dort wieder an, wo man 1933 aufgehört hatte. Nach der Wende 1989 kam eine abermalige historische Chance zur Aufnahme von neuen Lernerfahrungen. Es wurden heftige Debatten über den Sinn und Unsinn von Militärseelsorge, Religionsunterricht und Kirchensteuer geführt. Im Ergebnis sind alle Einsprüche gegen die Strukturen der Alt-EKD zurückgewiesen worden. Der Evangelische Kirchenbund in den neuen Bundesländern löste sich auf. Die Restauration hatte ein zweites Mal gesiegt – es gab jedoch noch Nischen, wo der Sieg nicht vollkommen war. Eine solche kleine Nische für noch nicht endgültig bereinigte Sonderstrukturen war der Religionsunterricht in Berlin. Nunmehr sollen auch diese Restnischen beseitigt werden. Und das Merkwürdige ist, dass die Kirchen selbst die Agitatoren für die neuerliche Restaurationswelle sind.

Während die Kirchen dort, wo man sich ihren Widerstand wünschen würde, oft mit dem gesellschaftlichen Trend mitschwimmen, treten sie hier in Widerspruch zu der Mehrheitsmeinung – obwohl sie damit ihre Entwicklung zu mehr Eigenständigkeit und Eigenverantwortung selbst blockieren. Nicht die Politik hat sich von der Mehrheitsmeinung getrennt – so dass der Kirche nunmehr die Aufgabe zufallen könnte, auf dem Weg des Volksbegehrens die Politik zu korrigieren. Ein falsches Bild von der Mehrheitsmeinung hat vielmehr die Kirche.

Aber man kann den Streit um die Mehrheitsmeinung eigentlich auf sich beruhen lassen. Denn es geht der Kirche gar nicht um das Anliegen, der Mehrheitsmeinung zum Durchbruch zu verhelfen, sondern um den Ausbau ihrer Privilegien. Die Einführung des Religionsunterrichts als ordentliches Unterrichtsfach in einem Wahlpflichtbereich würde die Privilegierung der Kirche verstärken. Vergessen scheint die Einsicht, dass die Kirche kein Selbstzweck ist. Das Festhalten an Privilegien oder die Vernachlässigung ihres Dienstes aus Besorgnis um gefährdete Eigeninteressen schadet ihrer Glaubwürdigkeit.

Der Autor ist evangelischer Pfarrer, wohnhaft in Berlin-Karlshorst.

Karl Martin

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