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Meinung: Gastkommentar: Wir lieben uns doch alle

Die Fähigkeit meiner Landsleute, sich selbst zu feiern, übt auf mich eine fast grenzenlose Faszination aus. Am 14.

Die Fähigkeit meiner Landsleute, sich selbst zu feiern, übt auf mich eine fast grenzenlose Faszination aus. Am 14. Juli, Jahr für Jahr, erreicht dieser selbstbezogene Kult wieder einen Höhepunkt. Und die Berliner Exil-Franzosen strengen sich gleich doppelt an, als müssten sie sich dafür trösten, dass sie so weit entfernt vom Vaterland leben: ein bal populaire in Reinickendorf, deutsch-französisches Volksfest in Wedding, feucht-fröhliche Feier im olympischen Schwimmbad in Friedrichshain, Botschaftsempfang im Hotel "Adlon".

Jedesmal wieder: die Ansprache des Präsidenten der Republique im Fernsehen, das Tanzen zum Akkordeon in den Straßen, Boule-Spiel, Baskenmützen, Baguettes und Feuerwerk ... - all das folkloristische Gerümpel malt das Bild eines etwas skurrilen Landes, das nirgendwo anders mehr existiert als in den Phantasien von uns Exil-Franzosen.

Ein Land im Traum

Frankreich, ein bisschen kitschig, süß und naiv, das mehr an Prevert, Doisneau oder Tati erinnert als an die profane Realität der neoliberalen Moderne. Ein imaginäres Frankreich, in dem die Croissanterien noch nicht das Baguette entthront haben, ein Land ohne Handys, ohne amerikanische Websites im Fernsehen. Ein Frankreich, von dem wir gemeinsam träumen - dann, wenn Nationalfeiertag ist.

Oder dann, wenn ein Film die Kinos erobert, wie jetzt seit einigen Wochen, und alle Rekorde bricht. Von Mitte August an wird "Die fabelhafte Welt der Amélie" auch in Berlin zu sehen sein. Eine kleine Hymne auf das Frankreich des 14. Juli mit einer vor Liebeskummer kranken Concièrge und ihrer dicken Katze, mit den typischen Theken und Gewohnheiten in den Bistros an der Ecke, mit dem Tertre-Platz und der Treppe von Montmartre, mit dem Fenster auf den Hinterhof eines Pariser Mietshauses, den suizidgefährdeten Goldfischen, Nudelplatten auf Wachstuchtischen und den zarten, sich kreisförmig ausbreitenden Wellen im Kanal Saint-Martin, wenn ein Kiesel hineingeworfen wird. Eine Collage aus all den vielen kleinen Teilchen im kollektiven Gedächtnis.

Der Film zum Gefühl

Belanglos, dass das Auswahlkomittee des Filmfestivals von Cannes den Film ablehnte - die Franzosen begeisterte er: Sechs Millionen sahen ihn bereits. Ganz Frankreich hat sich in Amélie verliebt. Selbst Präsident Jacques Chirac erlaubte sich eine private Vorführung im Elysée, um zu verstehen, wovon sein kleines Volk so sehr bewegt ist.

Man lacht, ist gerührt, erinnert sich, entdeckt eine Geschichte, eine Kindheit wieder, Querverbindungen, Einbildungen, eine das Lebensgefühl sanft ausdrückende Leitkultur. Ob nun 120 Minuten gemütlich in einen Veloursessel im Kino geräkelt oder einen warmen Julitag lang vor den großen Ferien: In diesen Momenten lieben die Franzosen - sich selbst. Glücklich im gleichen Schicksal vereint. Zufrieden damit, Franzosen zu sein. Was denn sonst!

Und Deutschland? Wo ist der Festtag, wo ist der Film, der eine solche Heldentat vollbringen könnte?

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