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Gastkommentar: Wir müssen über die Grenzen des Wachstums reden

Alles aufgezehrt. Der Traum von der immerwährenden Prosperität ist vorbei. Ein Gastkommentar.

Irgendetwas geht seinen Gang“, antwortet der Diener Clov in Samuel Becketts „Endspiel“ auf die angstvolle Frage seines Herrn, was eigentlich vor sich geht? Auch bei uns passiert etwas, was sich seit einiger Zeit aufstaut und bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein die Menschen tief beunruhigt. Die Demonstrationen gegen Stuttgart 21, den Ausbau von Flughäfen oder die Fehmarnbrücke, die Ablehnung von Schulreformen oder NOlympia sind nicht bloß als Dagegensein zu erklären, auch nicht als Kommunikationsproblem oder gar als Stimmungsdemokratie. Ebenso greifen die Erklärungsversuche von Heiner Geißler zu kurz. Es geht nicht nur um die Form der Demokratie, nicht nur um die unzureichende Beteiligung der Bürger und eine Bastapolitik, sondern auch um die Substanz.

Uns plagt nämlich nicht nur ein Altersrheuma, wir leiden auch an den Geburtsschmerzen im Übergang zu einer neuen Ordnung. Der alte Konsens, der unsere Gesellschaft zusammengehalten hat, ist zerbrochen. Aber es ist nicht klar, wie ein neuer aussehen kann. Im „sozialdemokratischen Jahrhundert“ wurden Wachstum und Sozialstaat verbunden. Es zeigte, das Wachstum keine feste Größe ist, sondern durch die Zusammensetzung seiner Faktoren Arbeit, Kapital, Rohstoffe und Technologien gestaltbar ist. Nun erreichen wir aber die Grenzen des Wachstums, die ökologischen ganz offensichtlich, aber auch die sozialen und zunehmend die ökonomischen Grenzen. Der Traum von der immerwährenden Prosperität ist vorbei. Ordnung, Orientierung und Perspektive gehen verloren, denn Wachstum war die Funktionslogik der Moderne, wurde zur Hoffnung auf eine gute Zukunft. Daran glauben die Menschen immer weniger.

Vor diesem Hintergrund muss das Nein der wachsenden Zahl von Menschen zu der technokratischen Sachzwanglogik gesehen werden, die in Stuttgart und anderswo als Politik für neues Wachstum ausgegeben wird, aber die Gesellschaft in die Geiselhaft wirtschaftlicher Zwänge nimmt. Wenn sich der Staat für ein höheres Wachstum total verschuldet und soziale Leistungen kürzt; wenn angebliche Reformen für mehr Wachstum als Angriff auf die eigene Sicherheit empfunden werden; wenn der Schutz der Natur hinter ökonomischen Wachstumsinteressen zurücksteht – und das als alternativlos abgenickt werden soll, dann machen immer mehr Menschen nicht mehr mit.

Statt den Protest als modische Verweigerungshaltung gegen die Industriegesellschaft zu verurteilen, was er überwiegend nicht ist, muss es einen offenen Diskurs über den weiteren Weg der Moderne geben. Die Wachstumsökonomie ist nicht nur ein Fetisch, sie ist auch eine jahrhundertealte kulturelle Erbschaft. Wachstum war das große Triebwerk, bringt Wirtschaft und Gesellschaft auf Touren und macht sie gestaltbar. Tatsächlich brachte hohes Wachstum unserem Land nach 1950 einen historisch unvergleichlichen Modernisierungsschub.

Wachstum war gleichsam der Fahrstuhl nach oben. Sanken dagegen die Wachstumsraten, schrillten die Alarmglocken, auch weil eine Alternative zum Wachstum bis heute schwer vorstellbar war, da es kaum Erfahrung mit Perioden ohne Wachstum gibt. Und die, die es gibt, sind alles andere als attraktiv. Nun aber erreichen wir einen Punkt, an dem das Gestaltungsfenster für den sozialökologischen Umbau jenseits des Wachstumszwangs geöffnet werden muss.

Die Grenzen des Wachstums sind keine neue Erkenntnis, fast alle Ökonomen der vergangenen beiden Jahrhunderte gingen von ihnen aus. Seit den 1970er Jahren wissen wir, dass sie schnell näher kommen. Die Studie „The Limits of Growth“ des Club of Rome hätte bereits 1972 der Wendepunkt sein müssen. Doch die Warnung, dass es auf unserem begrenzten Planeten kein unbegrenztes Wachstum geben kann, wurde ignoriert, auch weil die Weltwirtschaft Mitte der 1970er Jahre in eine Krise geriet.

Statt zum sozialökologischen Umbau kam es Ende des Jahrzehnts zum Bruch mit dem Sozialstaat. Der Neoliberalismus öffnete dem Kasinokapitalismus die Türen. Es wurde nicht erkannt, dass die Zuwächse nicht nur aus ökologischen Gründen geringer ausfallen mussten, sondern auch weil die Sozialprodukte der Industriegesellschaften bereits ein gewaltiges Niveau erreicht hatten. Stattdessen kündigten die USA die Weltwirtschaftsordnung von Bretton Woods auf, um zu mehr Wachstum zu kommen. Damit verstärkten sie jedoch die Instabilität, eine erste Reaktion darauf waren die Ölpreiskrisen 1974 und 1978.

Die Finanzkrise von 2008 markiert das Ende eines verheerenden Experiments im Namen des Wachstums. Aus ideologischer Blindheit wurden die Banken von den sozialen Bindungen befreit, die nach 1945 ihre Macht halbwegs in Grenzen gehalten hatten. Die Hauptverantwortlichen dieser Entmoralisierung der Wirtschaftsordnung waren die britische Premierministerin Margret Thatcher und der amerikanische Präsident Ronald Reagan. Sie übertrugen den Banken das Kommando über die Wirtschaft, um durch ein marktradikales Laissez-faire und eine beispiellose Kreditexpansion Unternehmen und Konsumenten zu höheren Wachstumsraten anzutreiben.

Das Diktat der kurzen Frist trieb die Landnahme von Arbeit, Kapital und Natur auf die Spitze, verschärfte die Ungleichgewichte, blockierte den Klimaschutz und beschleunigte die Umverteilung von unten nach oben. Der Anteil des Finanzsektors am Sozialprodukt erhöhte sich von rund 5 auf fast 30 Prozent. Die Produktivität stieg, die Reallöhne blieben aber gleich oder gingen sogar zurück, gegen den Nachfrageausfall wurde die Verschuldung der öffentlichen und privaten Haushalte in die Höhe getrieben – bis die Finanzblase platzte. Doch statt daraus zu lernen, hieß die Antwort der Bundesregierung „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“.

Heute droht sich zu erfüllen, was Max Horkheimer in der Kritischen Theorie vorhergesagt hat: „Nach einer Periode des Aufstiegs, der Entfaltung gewaltiger Kräfte, der Emanzipation des Individuums und einer ungeheueren Ausbreitung der Macht über die Natur treibt die Menschheit einer neuen Barbarei zu.“ Finanzmarktkrise, Klimawandel, Peak-Oil oder die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko sind die Folgen einer Fixierung auf ein Wachstum, das die natürlichen, sozialen und ökonomischen Grundlagen unserer Gesellschaft systematisch aufzehrt.

Nach dem „Living Planet Index“ ging allein in den vergangenen 35 Jahren knapp ein Drittel des biologischen Reichtums der Flüsse, Meere und Wälder verloren. Seit 1986 liegen Ressourcenverbrauch und Schadstoffeinträge höher als die Regenerationsfähigkeit der Natur. Was erst, wenn neun Milliarden Menschen nach dem Vorbild der westlichen Metropolen leben wollen? Bei einem Status quo müsste die Weltwirtschaft um das 15-Fache wachsen.

Um die schlimmsten Folgen des Klimawandels zu verhindern, müssen die Treibhausgase in den Industriestaaten bis zum Jahr 2050 um 90 Prozent sinken. Doch trotz des Kyoto-Vertrags sind die schädlichen Kohlendioxidemissionen im vergangenen Jahrzehnt um 30 Prozent gestiegen. In Kopenhagen, wo sich die Weltgemeinschaft auf das Ziel verständigen wollte, den globalen Temperaturanstieg auf zwei Grad Celsius zu begrenzen, scheiterte der Klimaschutz an den Wachstumsinteressen der Industrie- und Schwellenländer, auf der Folgekonferenz in Cancun sah es kaum besser aus.

Die Ölförderung erreichte 2004 ihren Höhepunkt, seit 30 Jahren gab es an Land keine größeren Funde mehr. Die steigende Nachfrage soll durch riskante Tiefseebohrungen und umweltschädliche Teersande für die nächste Zeit gesichert werden. Katastrophen wie im Golf von Mexiko sind damit programmiert. Metalle wie Gallium, Lithium oder Rhenium, die für den Bau von Flugzeugturbinen, Batterien und Solarzellen ungemein wichtig sind, gehen rasant zur Neige. Nach heutigen Kenntnissen haben sie eine Reichweite unter 30 Jahren.

Zwischen 1998 und 2008, dem Beginn der Finanzkrise, kam Deutschland im Schnitt auf 1,5 Prozent Wirtschaftswachstum, in den 1960er Jahren waren es deutlich über fünf Prozent. 22 der 31 OECD-Staaten verzeichneten im vergangenen Jahrzehnt lediglich ein lineares Wachstum. Aber Sozial-, Gesundheits- und Pflegesysteme, die Beschäftigungspolitik oder die Finanzierung und Sanierung der öffentlichen Haushalte gehen von deutlich höheren Wachstumsraten aus.

Die Debatte über neuen Fortschritt kann zum Sanierungsprogramm der Politik werden. Seit zwei Jahrzehnten, seit dem Erdgipfel von Rio, kennen wir das Ziel des Umbaus: eine nachhaltige Entwicklung. Sie ist die Leitidee für ein wirtschaftliches Regime, das die Naturnutzung vom Wachstum entkoppelt, die öffentlichen Güter sichert und Innovationskraft der Volkswirtschaft mit sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Verträglichkeit verbindet. Eine leichte Aufgabe ist das nicht. Der Umbau ist mit gewaltigen Einschnitten und Veränderungen verbunden – individuell wie für die Gesellschaft insgesamt. Auch unsere wirtschaftliche Ordnung wird er grundlegend verändern. Die Politik muss in sechs Richtungen aktiv werden und mehr soziale Demokratie verwirklichen:

Erstens muss schnellstmöglich eine Effizienzrevolution bei Energie und Ressourcen eingeleitet werden, ebenso der völlige Umstieg in die Solar- und Kreislaufwirtschaft. Es wäre jedoch eine Illusion, den Naturverbrauch allein durch ein grünes Wachstum stoppen zu können. An neuen Formen einer genügsamen Lebens- und Wirtschaftsqualität jenseits materieller Maßstäbe kommen wir nicht vorbei.

Zweitens muss es weltweit zu einem Regime für die Nutzung der Brenn- und Rohstoffe und der Nahrungsgrundlagen kommen. Sie sind das gemeinsame Erbe der Menschheit, deshalb müssen Eigentumsrechte eine Nachhaltigkeitsverpflichtung bekommen. Die reichen Länder müssen in einen globalen Fonds einzahlen, um das Naturkapital zu schützen. Ebenso muss die Spekulation um Energie, Rohstoffe und Ernährung sofort beendet werden.

Drittens muss die Politik für eine gerechte Verteilung von Einkommen und Chancen sorgen. Sie darf in der Steuerpolitik nicht zurückschrecken, zwischen notwendigen und konsumistischen Bedürfnissen zu unterscheiden und die erheblich verteuern. Ökologische Produkte könnten einen niedrigeren Steuersatz bekommen. Und ein Grenzsteuerausgleich, der die Einfuhr sozial und ökologisch problematischer Produkte mit einer Abgabe belegt, schützt gegen Umwelt- und Sozialdumping. Zudem brauchen wir ein Gesetz für einen nachhaltigen Wettbewerb, das die Externalisierung von Kosten massiv sanktioniert.

Viertens muss der Staat die öffentlichen Güter in einem Umfang bereitstellen, der einer modernen Gesellschaft angemessen ist. Die Gemeingüter dürfen nicht länger privatisiert und ausgezehrt werden. Stattdessen müssen die Steuerbasis verbreitert, hohe Einkommen und Vermögen stärker besteuert und fragwürdige Subventionen beendet werden.

Fünftens muss es zu einer Arbeitszeitverkürzung und Arbeitszeitgestaltung kommen, die das Arbeitslosenproblem entschärfen und eine Spaltung zwischen Arm und Reich verhindern. Die Umorientierung der Besteuerung vom Faktor Arbeit auf den Energie- und Ressourceneinsatz erweitert hierfür den Spielraum.

Sechstens muss die EU zu einer Nachhaltigkeitsunion und Europa zum Motor des sozialökologischen Umbaus werden. Dann hätte die EU ein wichtiges Ziel, statt sich im Geschacher um Währungs- und Finanzfragen zu verlieren.

Auf Initiative von SPD und Grünen startet der Bundestag am morgigen Montag die Enquete-Kommission Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität. Die Debatte über die Grenzen des Wachstums kann zur Stunde der Demokratie werden, wenn die Kommission sich von den politischen Alltagszwängen löst und mutige Vorschläge macht.

Der Autor war von 1983 bis 2009 SPD-Bundestagsabgeordneter und ist heute Bundesvorsitzender der NaturFreunde. Er wurde von der SPD als Sachverständiger in die Enquete- Kommission Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität berufen. Der Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit Hubert Weiger, Bundesvorsitzender des BUND.

Michael Müller

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