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Gastkommentare: Pro und Contra: Wikileaks - Kämpfer für die Wahrheit oder Landesverräter?

Die Meinungen darüber, was Wikileaks ist und wie mit der Enthüllungsplattform umgegangen werden sollte, gehen auseinander. Hier das Pro und Contra zweier profilierter Gastkommentatoren.

Pro Wikileaks: Wahrheit entmachtet

Ende November machte Wikileaks das Innenleben der amerikanischen Diplomatie öffentlich. Politiker aller Länder vereinigten sich in Empörung. Die galt Wikileaks, nicht den USA.

Wikileaks, so hieß es damals und heißt es bis heute, habe das Vertrauen in die Diplomatie beschädigt. Wikileaks habe Menschenleben gefährdet und sei eine Gefahr für den Datenschutz. Doch hat Wikileaks nur die Wahrheit verbreitet. Wenn diese Wahrheit ärgerlich ist, dann sind dafür Staatsmänner und ihre Bediensteten verantwortlich. Wikileaks führt keinen Krieg im Jemen, ruft zu keinem Feldzug gegen den Iran auf und klatscht auch nicht über Politiker daher.

Wikileaks ist nicht Julian Assange. Wikileaks ist eine Idee. Sie befindet sich auf dem unaufhaltsamen Vormarsch. Einer Idee kann man keinen Prozess machen. Wer Wikileaks schließen will, der fängt Regentropfen ein, um etwas gegen das schlechte Wetter zu unternehmen. Doch es wird schon bald in Strömen regnen.

Die geistigen Grundlagen von Wikileaks legten in den frühen 80er Jahren des letzten Jahrhunderts die Hacker der ersten Stunde. Sie dachten nach über die soziologischen und politischen Folgen der Informationstechnologie. Sie entwickelten eine Hackerethik. Die Hacker nahmen an, dass es bald zu einer Schieflage bei der Datenverfügbarkeit kommen würde. Der Staat würde versuchen, immer mehr über seine Bürger zu wissen, sie immer genauer zu kategorisieren und zu überwachen. Zugleich würde er aber seine eigenen internen Prozesse immer geschickter vor der kritischen Öffentlichkeit abschirmen. Weil Information Wissen ist und Wissen die Grundlage für erfolgreiches Handeln bietet, würde der Staat so mächtiger und die Bürger machtloser werden. Der Staat würde zunehmend sie kontrollieren, nicht umgekehrt. Die Grundidee einer freien Gesellschaft stände Kopf.

Die Hacker verpflichteten sich, diesen Prozess aufzuhalten und umzukehren. Sie würden die Privatsphäre der Bürger schützen und die Geheimnisse des Staates offenbaren. Ihr Hacken sollte das Wissensgefälle zwischen den staatlichen und privaten Datenströmen korrigieren.

Damals mutete diese Ethik der Hacker vielen Menschen seltsam an. Die zivil-ungehorsamen Computerfreaks wirkten wie fremde Kämpfer mit neuen Waffen gegen die Ankunft einer ungewissen Zukunft. Doch diese Zukunft hat begonnen. Ihre sicheren Zeichen heißen Vorratsdatenspeicherung, Onlinedurchsuchung, Fluggastdatenübermittlung, elektronische Personaldokumente, Websperren, automatische Kennzeichenerfassung und Gesichtserkennung an öffentliche Plätzen. Während die Freiheit der Menschen immer weiter eingeschränkt wird, wächst die Datenmacht des Staates. Gleichwohl beklagt er sich larmoyant, wenn auch ihm einmal ein paar Geheimnisse entrissen werden.

Das Projekt Wikileaks folgt der Hackerethik. Sein Gründer Julian Assange ist ein Hacker. Man hat ihm vorgeworfen, er habe unmoralisch gehandelt. Doch die Ethik der Hacker richtet sich gegen die Amoralität der Macht. Denn Hacker wissen: Die Wahrheit entmachtet. Aber sie nimmt die Macht nur dem, der sie auf Geheimnisse und Lügen gründet.

Die Ethik der „alten“ Hacker trifft heute, ein Vierteljahrhundert später, auf die technischen Möglichkeiten des modernen Internets. Es demokratisiert gleichsam das Hacken. Nach der Wikileaks-Idee kann jeder zur Offenlegung staatlicher Geheimnisse beitragen. Kein Staat wird diese Form des zivilen Ungehorsams in den Griff bekommen. Das Netz ist dezentral organisiert und ermöglicht Anonymität. Jede Information ist schneller kopiert, als sie gelöscht werden kann. Im Web bewegt sich die Wahrheit wie der Fisch im Wasser.

Das Jammern der Politik über die Aufdeckung ihrer eigenen Amoralität ist verlogen. Politik hat keinen begründbaren Anspruch auf Datenschutz. Den genießt nur der einzelne Mensch, zu dessen Persönlichkeitsrechten es gehört, Geheimnisse behalten zu dürfen.

Der Staat aber hat keine Persönlichkeit. Ihn trifft allein die Pflicht zu einer gemeinwohlorientierten und gerechten Politik. Wenn es um staatliche Daten geht, sollte genau das gelten, was für private Daten nicht gilt: Wer nichts zu verbergen hat, muss sich vor Transparenz nicht fürchten. Wissen ist keine Gefahr für die Demokratie. Desinformation aber wohl.

Das Leaking im Internet vergrößert die Transparenz der Politik. Das ist gut. Wenn Politik jederzeit damit rechnen muss, ihre dreckige bis graue Wäsche im Freien zu sehen, muss sie sich langfristig um weißere Wäsche bemühen. Welcher Bürger würde das bedauern?

Wolfgang Neskovic ist Ex-Bundesrichter, stellvertretender Vorsitzender des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags und Justiziar der Fraktion Die Linke.

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Contra Wikileaks: Landesverrat

Die Veröffentlichung der geheimen Dokumente aus dem amerikanischen Außenministerium polarisiert: Sie stillt einerseits Informationshunger und Sensationslust. Andererseits schürt sie Befürchtungen vor dem Zusammenbruch der internationalen Diplomatie. Was täglich in den Medien ausgebreitet wird und schier kein Ende nehmen will, erfüllt zunächst die kühnsten Träume von Journalisten, Politikwissenschaftlern und Historikern. Normalerweise müssten sie jahrzehntelang auf derart geheime Veröffentlichungen warten. Für sie kommt Wikileaks einem „Sesam, öffne dich!“ gleich.

Darüber hinaus geben die Dokumente faszinierende Einblicke, wie Nationen miteinander umgehen. Vor allem vermitteln sie ungefilterte Bilder von Amerikas Gegnern und Verbündeten. Dabei überrascht, dass Amerikas Diplomaten sich auf nüchterne Interessenpolitik und auf schonungslose Charakterisierung von Partnern und Gegnern gleichermaßen gut verstehen.

Insgesamt bestätigen die Veröffentlichungen das gegenwärtige Bild der USA als einer Supermacht, die – weltweit geschwächt und angesichts knapper harter Machtmittel – sich umso intensiver mit der sanften Macht der Diplomatie gegen den drohenden weltpolitischen Bedeutungsverlust stemmt. Dabei mag der eine oder andere sich peinlich berührt fühlen, wenn beispielsweise die Außenministerin ihre Diplomaten bei den UN zu unangenehmen Spionagepraktiken auffordert. Doch mehr als Ärger liegt in der Luft, wenn bloßgelegt wird, wie schwer sich Washington tut, den Krieg gegen den Terror in Irak, Afghanistan und Pakistan zu gewinnen, den Aufstieg der autoritären Mächte vernünftig zu kanalisieren und weltpolitische Konflikte zu lösen.

Partner werden durch massive Indiskretionen vor den Kopf gestoßen, Kriegsgegner profitieren von der Veröffentlichung vertraulicher Absprachen. Durch die Veröffentlichung delikater politischer Informationen und persönlicher Charakteristika ist zwangsläufig der Nährboden für Zwietracht vor allem zwischen den Demokratien und ihren Verbündeten gelegt worden.

Die internationale Desavouierung vieler Außenpolitiker beschädigt manche Beziehung. Misstrauen greift um sich. Was bislang öffentlich gemacht wurde, gefährdet nationale Interessen und erschwert die Anstrengungen der USA bei der Lösung von Konflikten. Erfüllen manche Veröffentlichungen durch Wikileaks nicht den Tatbestand von Geheimnis- oder gar Landesverrat? Dass die autoritären Regime in den Demokratien nicht geschätzt werden, wissen diese selbst allzu gut. Aber die Bloßstellung der amerikanischen Depeschen birgt dramatische Konsequenzen in sich. Dies gilt auch für die diplomatischen Ranküne im Zusammenhang mit dem Bruch zwischen sunnitischem und schiitischem Islam oder bei der Bedrohung durch eine potenzielle Atommacht Iran oder der Rolle der türkischen Führung oder beim Nahostkonflikt.

Natürlich ist das öffentliche Interesse an den Usancen und Praktiken der Weltpolitik legitim – aber nur innerhalb demokratischer Staaten. Die internationalen Machenschaften der autoritären Mächte hingegen bleiben völlig im Dunkeln. Autoritäre Mächte wie China sehen sich durch Wikileaks in ihrer Politik der Abschottung und der Unterdrückung von Meinungsfreiheit geradezu bestärkt. Wird also durch Wikileaks liberale Toleranz ad absurdum geführt?

Dank Wikileaks wird nur unwesentlich mehr demokratische Transparenz geschaffen, aber die USA werden vorgeführt. Dies gilt insbesondere für Barack Obamas und Hillary Clintons außenpolitische Initiativen.

Wikileaks trifft also die Falschen! Die Forderung nach demokratischer Transparenz muss an die autoritären Regimes in der Welt gestellt und durchgesetzt werden. Dort gibt es leider keine Trennung zwischen staatlichem, öffentlichem und privatem Interesse. In Diktaturen ist alles staatlich überwacht und reglementiert. Umgekehrt sollten Demokratien nicht dem Fehler erliegen, alles – insbesondere die vertraulichen staatlichen Machtmittel im internationalen Verkehr der Tyrannei – der Öffentlichkeit zu unterwerfen.

Muss deshalb das staatliche Interesse an der Vertraulichkeit des diplomatischen Verkehrs nicht höher bewertet werden als das öffentliche Interesse an Information und Meinungsfreiheit?

Manche Information von Wikileaks mag von öffentlichem Interesse sein. Aber die überwältigende Mehrheit der Geheiminformationen ist durch ihre Veröffentlichung dem staatlichen Interesse abträglich. Auch die vertraulichen Bemühungen der Regierung Obama um Konfliktlösung, Vertrauensbildung und zur weltpolitischen Interessenwahrung werden durch Wikileaks erschwert.

Tatkräftige Führung von Präsident Obama und Außenministerin Clinton erfordert demnach nicht nur Entschuldigungen rund um den Globus, sondern eine drastische Reform der technologischen Sicherheitsstruktur sowie eine penible rechtliche Bestandsaufnahme der Vorfälle um Wikileaks.

Obama muss wirkungsvoller als bislang Vorsorge treffen, damit in Zeiten des weltweiten Krieges gegen den Terror Geheimnisverrat nicht als Petitesse missverstanden wird. Durch die Veröffentlichung geheimer diplomatischer Depeschen werden sein Land, seine außenpolitischen Interessen und seine Diplomaten und Soldaten im Einsatz gefährdet.

Christian Hacke ist Politikwissenschaftler und Zeithistoriker. Er gehört der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik an, dem International Institute for Strategic Studies und dem World Security Network.

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