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Kleine Freiheit? Große Freiheit? In jedem Fall müssen wir der Freiheit eine neue Form geben, meint der Philosoph Wilhelm Schmid.

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Gaucks Lebensthema: Der Sinn der Freiheit

Joachim Gauck soll der Präsident der Freiheit werden. Doch frei sind wir schon: von Religion, Bevormundung und Zwängen der Natur. Um wahre Freiheit zu erlangen, müssen wir manche Freiheit aufgeben, meint unser Autor.

Dass die Freiheit mit dem neuen Bundespräsidenten wieder zum Thema wird, ist ein Glück. Zu lange schon ist der Zentralbegriff der Moderne eine Selbstverständlichkeit. Dabei wird es immer dringlicher, über seine Doppelbedeutung zu reden. Bedeutsam war die Freiheit lange nur als Befreiung, als Freisein von etwas, nämlich von allem, was irgendwie als einengend, demütigend, begrenzend erfahren wurde. Diese sogenannte „negative Freiheit“ war für viele Menschen die Voraussetzung, neue Lebensmöglichkeiten zu gewinnen und nicht mehr nur bedrückenden Notwendigkeiten ausgeliefert zu sein.

Über mehr als 200 Jahre hinweg ist in immer neuen Schüben Befreiung erkämpft worden, die westliche Moderne ging daraus hervor. Meilensteine waren die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die französische Revolution von 1789, in jüngerer Zeit die Studentenbewegung von 1968. Der 18. März spielte für die Deutschen eine große Rolle: Am 18. März 1848 kulminierte der Aufstand gegen die absolutistische Herrschaft, der blutig niedergeschlagen wurde. Am 18. März 1990 mündete der Aufstand gegen das DDR-Regime in die erste freie Volkskammerwahl.

Der Philosoph Wilhelm Schmid, geb. 1953, lebt als freier Philosoph in Berlin.
Der Philosoph Wilhelm Schmid, geb. 1953, lebt als freier Philosoph in Berlin.

© Jürgen Bauer / Suhrkamp Verlag

Die Sphären der Freiheit: Wir sind frei von Religion, von politischer Bevormundung, von Naturzwängen, von sozialer Enge

Die Freiheit im Sinne von Befreiung hat dem modernen Menschen zumindest einige der ersehnten Möglichkeiten zur Selbstbestimmung eingebracht. Es wächst aber auch, wie immer deutlicher wird, die Ratlosigkeit im Umgang mit der Freiheit. Das zeigt sich in fünffacher Hinsicht:

1. Die Freiheit von religiöser Bindung legt niemanden mehr auf eine Religion und die damit verbundenen Verhaltensregeln und Sinnmuster fest, niemand wird mehr auf ein Jenseits vertröstet – mit der Folge allerdings, auf kleine und große Lebens- und Sinnfragen nun in diesem Leben selbst Antworten finden zu müssen.

2. Die Freiheit von politischer Bevormundung garantiert jedem Einzelnen Menschenwürde und eigene Rechte – mit der Konsequenz jedoch, auch selbst politische Verantwortung übernehmen zu sollen, wenigstens als Wähler und interessierter Bürger, offenkundig eine ebenso unumgängliche wie mühsame Aufgabe für viele.

3. Die Freiheit von Naturzwängen ist mithilfe von Wissenschaft und Technik möglich geworden. Jeder Einzelne kann beispielsweise mit Autos und Flugzeugen über eine Bewegungsfreiheit verfügen, die seinen natürlichen Radius weit überschreitet – aber die Rückstände der dabei verbrannten Energieträger gefährden womöglich die eigenen Lebensgrundlagen.

4. Die Freiheit wirtschaftlicher Unternehmungen von staatlicher Lenkung sollte der philosophischen Idee nach (Adam Smith) zur Hebung des Wohlstands aller führen – die praktische Erfahrung zeigt jedoch, dass eine zu weitgehende Deregulierung soziale und ökologische Folgen zeitigt, deren Bewältigung größte Mühe macht.

5. Die Freiheit von sozialer Bindung hat das moderne Individuum hervorgebracht, losgelöst von seiner festen Einbindung in Gemeinschaften und deren Zwängen, befreit („emanzipiert“) von erzwungenen Rollenverteilungen, sexuell befreit von überkommenen Moralvorstellungen, befreit überhaupt von Moral und Werten, die altbacken erscheinen. Aber viele scheinen überfordert zu sein mit der Aufgabe, ihr Leben nun selbstständig führen zu müssen.

Der Zustand des Befreitseins fühlt sich mit der Zeit leer und langweilig an

Die Befreiung bringt Sinnlosigkeit

Um nicht missverstanden zu werden: Nichts von den Befreiungsgewinnen soll aufgegeben werden. Was die Befreiung aber mit sich bringt, ist nicht nur Freiheit, sondern auch eine große Sinnlosigkeit, aufgerissen von der Auflösung zwanghafter, aber sicherer Bindungen. Die Tragik der Freiheit als Befreiung besteht darin, ein Individuum freigesetzt zu haben, das in seiner vielfachen Bindungs- und Beziehungslosigkeit kaum mehr zu leben vermag. Wie ein erratischer Block steht es in der Landschaft der Moderne, versteht sich selbst nicht mehr und weiß mit sich nicht umzugehen.

Daher kann es beim bloßen Zustand des Befreitseins nicht bleiben. Das Leben bedarf neuer Bestimmungen, Formen, Bindungen, Beziehungen, in denen es gelebt werden kann. Diese Arbeit der Freiheit steht uns noch bevor. Die Anstrengung der Befreiung war nicht klein, aber sie wird bei weitem übertroffen von der Mühe des Freiseins zu etwas, nämlich zu neuen, frei gewählten Festlegungen. Diese sogenannte „positive Freiheit“ folgt auf die negative Freiheit der Befreiung. Sie beruht darauf, dass jeder Einzelne sich mit seiner bewussten Lebensführung, seiner Lebenskunst, um eine selbstbestimmte Formgebung der Freiheit bemüht.

Wer selbstbestimmt leben will, muss der Freiheit eine Form geben

Im bisherigen Verlauf der Moderne war nicht immer klar, was mit einer „selbstbestimmten“ Freiheit genau gemeint ist, eher herrschte ein Missverständnis darüber vor. Selbstbestimmt ist nicht schon das Selbst, das sich befreit hat, sondern erst dasjenige, das zur Formgebung der Freiheit, zur „Selbstgesetzgebung“ in der Lage ist, denn das ist der Wortsinn der Autonomie: Sich selbst (autos) das Gesetz (nomos) zu geben, also die Gestaltung des eigenen Lebens selbst in die Hand zu nehmen, individuell und gemeinsam mit anderen auch gesellschaftlich Regeln zu finden, die ihren Grund nicht mehr in den Zwängen einer Tradition, Konvention oder Religion haben, sondern in der Einsicht und freien Wahl vieler.

Um Selbstbestimmung zu praktizieren, ist es erforderlich, die Arbeit der Befreiung um die Arbeit an der Formgebung der Freiheit zu ergänzen, also positiv zu bestimmen, was als richtig angenommen wird, und dem auch selbst zu folgen, statt nur negativ zu bekunden, was alles als falsch abgelehnt wird. Die beiden Aspekte der Freiheit unterscheiden sich signifikant, denn es ist relativ einfach, negativ zu sagen, wovon es Befreiung geben soll. Die positive Bestimmung wozu ist schwieriger, weil sie mehr Kreativität erfordert, mehr aber noch, weil jede Formgebung der Freiheit auf deren Begrenzung hinausläuft: Sich für etwas zu entscheiden und auf anderes zu verzichten, fällt schwer und ist schmerzlich.

Beziehungen sind freiwillige Unfreiheit

Was das bedeutet, wird am Beispiel von Beziehungen deutlich: Ich kann mich befreien von einer Beziehung, die mir lästig geworden ist. Meine Freiheit wird dabei zur Unfreiheit des anderen, dem ich kein Mitspracherecht einräume. Für mich wird der Zustand des Befreitseins zum Problem, da er sich mit der Zeit leer und langweilig anfühlt. Alles bleibt in der Schwebe des Möglichen, also entschließe ich mich zu einer neuen Beziehung, deren Verwirklichung den Verzicht auf weitere mögliche Beziehungen erfordert. Soll alles möglich bleiben, kann nichts wirklich werden.

In Bezug auf die religiöse Freiheit ist die Aufgabe zunächst, sie gegen den Fundamentalismus verschiedener Religionsgemeinschaften zu verteidigen. Darüberhinaus wird jedoch eine neue Formgebung der religiösen Freiheit möglich, die mit der freien, individuellen Wahl einer neuerlichen religiösen Bindung realisiert werden kann. Das könnte zu einer Rückkehr von Religion beitragen, die keine vormoderne Gestalt mehr haben würde.

Was die politische Freiheit angeht, die in Grund- und Menschenrechten garantiert ist, wird sie weiterhin gegen Feinde der freien Gesellschaft zu verteidigen sein, eine Angelegenheit staatlicher Institutionen, aber auch engagierter Individuen. Erst recht bedarf es des bürgerschaftlichen Engagements vieler jedoch, um der freien Gesellschaft soziale und kulturelle Formen zu geben.

Die Formgebung der Freiheit hat zudem mit Formen des Umgangs zu tun, durch die sich die Bürger einer Gesellschaft wechselseitig Respekt zollen: Umgangsformen sind im besten Sinne des Wortes „bürgerlich“, sie setzen der Willkür total befreiter Menschen Grenzen. Und was ist mit Umgangsformen sowie mit Grund- und Menschenrechten im Internet? Die Auseinandersetzung hierüber schwelt, bei einem deregulierten Raum wird es nicht bleiben können, denn die Freiheit der einen tangiert auch hier die der anderen.

Nur bei der Annahme von Selbstbestimmung kann es auch Selbstverantwortung geben

Die Freiheit der Ökonomie führt zum Recht des Stärkeren

Hinsichtlich der Freiheit von Naturzwängen besteht die Formgebung der Freiheit in der individuellen und gesellschaftlichen Bereitschaft zu einer neuen Bindung an die Natur. Das schiere Eigeninteresse treibt uns dazu an, um nicht zum Opfer einer ökologischen Zerstörung zu werden, an der wir selbst beteiligt sind. Und wenn die großen ökologischen Veränderungen nur zum kleineren Teil menschengemacht sein sollten? Dann haben wir dennoch darauf zu antworten und halten uns am besten an den Klugheitsgrundsatz „Vorsorge ist besser als Nachsorge“.

Mit Bezug auf die Freiheit der Ökonomie: Deren Befreiung von gesetzlichen Vorgaben zieht allzu leicht das Recht des Stärkeren nach sich. Daher wird sich die Gesamtheit der Individuen, die eine Gesellschaft bilden und eine gesetzgebende Versammlung wählen, dazu entscheiden müssen, die Wirtschaft nicht in ein ruinöses Frühstadium zurückfallen zu lassen. Sinnvoll dürfte sein, ihre Freiheit in einem Maße einzugrenzen, das ihr ausreichend zu atmen erlaubt, aber nicht die sozialen Ungleichheiten dermaßen vertieft, dass Freiheit für viele zu einem leeren Wort verkommt.

Ist die dafür nötige Selbstbestimmung aber möglich? Verfügt jeder Einzelne über die Freiheit dazu? Ist nicht alles „determiniert“ von anonymen Mächten, vor allem von der global operierenden Wirtschaft? Wie es sich in Wahrheit verhält, wird kaum je zweifelsfrei zu klären sein. Ob Selbstbestimmung möglich ist, lässt sich nicht beweisen, nur annehmen. Jeder Einzelne kann sich für die Annahme entscheiden, dass es so etwas wie Freiheit gibt und dies zum Bestandteil der eigenen Lebensphilosophie machen. Damit wird Fremdbestimmtheit nicht gegenstandslos, aber der einzelne Mensch erfährt mehr Würde und Selbstachtung daraus, sich selbst etwas zuzutrauen und sogar zuzumuten.

Freiheit ist ohne Verantwortung nicht denkbar

Entscheidend ist letztlich die Haltung, mit der wir durchs Leben gehen: Wollen wir uns fremdbestimmt fühlen oder aber uns in Selbstbestimmung üben, nur für den Fall, dass sie möglich sein sollte. Nur bei der Annahme von Selbstbestimmung kann es auch Selbstverantwortung geben. Diese wahrzunehmen heißt, nicht mehr unentwegt andere für alles verantwortlich zu machen. Auch bei einer Leugnung jeder Möglichkeit von Selbstbestimmung und Selbstverantwortung lebt dieses Leben niemand als der jeweilige Mensch selbst.

Selbstbestimmung kann nicht bedeuten, über sich und das eigene Leben immer und überall ohne Einschränkungen verfügen zu wollen. Das andere, das zuwiderläuft, und die anderen, die nicht mitspielen, können nicht aus dem Leben ausgeschlossen werden. Souverän ist nicht der Mensch, der immer und überall vollkommen frei über sich bestimmt, sondern der, der relative Klarheit darüber gewinnt, wo Selbstbestimmung möglich ist und wo nicht. Souverän ist er, wenn er das Eine vom anderen unterscheiden kann und sich auch willentlich bestimmen lässt, statt immer nur selbst bestimmen zu wollen.

Nach einem langen historischen Prozess der Befreiung steht nun eine vermutlich ebenso lange Phase der Formgebung der Freiheit bevor. Eine Freiheit zweiten Grades geht damit einher: Die Freiheit, zumindest teilweise auf Freiheit wieder verzichten zu können, um Bindungen und Beziehungen zu begründen und daran festzuhalten. Diese Arbeit wird die Moderne verändern, die bisher weitgehend mit Befreiung identisch war. Insofern befinden wir uns am Beginn einer anderen Zeit, die für das 21. Jahrhundert prägend sein wird, unabhängig vom Kommen und Gehen von Regierungen und Präsidenten. Nicht die Verabschiedung, sondern die Modifizierung der Moderne steht dabei infrage.

Eine Partei, die sich lange als „Partei der Freiheit“ verstand, hätte diesen Prozess politisch mitgestalten können. Dass sie zur Unzeit die Freiheit auf wirtschaftliche Deregulierung reduzierte, hat wohl wesentlich zu ihrem Niedergang beigetragen. Mehr als an Parteien liegt es jedoch an vielen Einzelnen, die Errungenschaften der Moderne, namentlich ihre Freiheiten gegen antimoderne Bestrebungen zu behaupten, sie aber auch auf reflektierte Weise neu zu gebrauchen. Entscheidend wird sein, dass einzelne Menschen mehr als bisher ihr Leben in eigener Verantwortung gestalten. Freiheit und Verantwortung: Nur in dieser Doppelbedeutung ist Freiheit zu haben.

Wilhelm Schmid, geb. 1953, lebt als freier Philosoph in Berlin und lehrt Philosophie als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. Zum Bestseller wurde sein Buch „Glück - Alles, was Sie darüber wissen müssen und warum es nicht das Wichtigste im Leben ist“.

Wilhelm Schmid

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