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Dieser Präsident, der Apostel der Freiheit, definiert sein Lebensthema als die Freiheit, sich zu allem mit allen möglichen Überlegungen äußern zu können.

© Reuters

Gaucks Weihnachtsansprache: Ritual bis zum Ruck

Was sagte der Bundespräsident in seiner Weihnachtsansprache? Schon vergessen? Gott bewahre, besser nicht, denn manche seiner Sätze haben Schwerkraft oder, im übertragenen Sinn, Anziehungskraft.

So, als er von dem Leben sprach, das schneller, unübersichtlicher und, vor allem – aber das betonte er nur durch die Stimme – instabiler geworden sei. Instabil! Schnell! Das sind allein schon Worte mit Ausrufungszeichen, es sind mehr Rufe, die Aufmerksamkeit erheischen – und doch keine bekommen. Oder hat in der Zwischenzeit jemand von Rang aus der sogenannten politischen Klasse darauf Bezug genommen, dass er sich überall tatkräftige Politiker wünschte, die dem Begriff der Solidarität Sinn geben, noch mehr von ihnen, die die Gesellschaft zum Besseren verändern wollen? Ja, das hat er tatsächlich gemeint, und noch so vieles mehr, das Widerhall hätte erzeugen müssen und es doch nicht tut. Und der da redet, ist nicht niemand. Es ist – der Bundespräsident.

Joachim Gauck, der Name war gedacht als eine Art Verheißung von Rot-Grün, noch dazu mit schwarz-blau-gelben Einsprengseln. Er sollte bewusst eine Zumutung sein, eine, ja doch, intellektuelle, weil die Ära des Vorgängers keine wurde. Dass der seine erste und einzige Weihnachtsansprache im Sinne seiner Bunten Republik Deutschland gehalten hatte, mit Familie, inmitten einer Patchwork-Szenerie, ist auch verdrängt. Dass Gauck bei seiner ersten Rede zum Fest neben einem einsamen, strahlend hellen Licht stand, im Hintergrund der sanft leuchtende Baum, war ein gewählter Würde-Kontrast: Ein älterer Herr, pastoral im Ton, wie es ihm entspricht, ein wenig aufgeregt, aber seiner Ausstrahlung mit der Dauer immer sicherer; einer, der Stress nimmt, anstatt ihn zu machen; einer, der Rituale beherrscht, und sei das Ritual er selber in seinem Amt; einer, der schlicht und doch wieder gar nicht so schlicht da ist. So gesehen wäre dann die Weihnachtsansprache die ideale Zusammenfassung seines Seins und Wirkens gewesen.

Und so ist es nicht richtig. Die Republik sediert sich selbst, das ist, was Gauck erfährt. Umgekehrt ist es, wie es sein müsste: Dieser Präsident, der Apostel der Freiheit, definiert sein Lebensthema als die Freiheit, sich zu allem mit allen möglichen Überlegungen äußern zu können. Das könnte jetzt als unmöglich empfunden werden, weil es doch auch noch die Bundeskanzlerin gibt, von der Aufrüttelndes, Aufstörendes, Neues zu erwarten sein sollte, in Krisen zumal, wo nichts mehr ist, wie es vorher war. Aber genau so ist es eben nicht. Sie sagt die vermeintlich richtigen Dinge, die allfälligen, die gewohnten, um niemanden zu verlieren, vor allem keinen Wähler. Präsidial wird das genannt, doch das ist es nicht. Es ist nur eine Attitüde, um Vertrauen zu stiften; und es ist nur eine Kategorie, in die es eine Mehrheit einordnen möchte – weil die Welt unübersichtlicher, schneller, instabiler geworden ist.

Wo die eine bis auf eines – Europa! – keine Ausrufungszeichen setzt, da setzt der andere fast schon zu viele davon. Wo bei ihr die Regierung, oft eher im Stillen, die praktizierte politische Führung ist, da ist es bei ihm der schon im ersten Jahr oftmals wiederholte Versuch, einer seit sieben Jahren währenden Form der politischen Verführung zu widerstehen. Aber natürlich nicht im Stillen, weil ihm in seinem Amt nur Worte bleiben. Für die Freiheit, die er meint, setzt er auf Beinfreiheit, die jedoch bisher zu nichts führt. Was hat Gauck als Präsident nicht schon alles gesagt, zu Israel, zum Islam, zu Pazifisten und Ökologen, und jüngst, nach einem Afghanistan-Besuch, zu den dort immer noch herrschenden kriegsähnlichen Zuständen. Jeder einzelne Punkt hätte für sich gesehen zu anderen, früheren Zeiten Debatten ausgelöst. Keiner hat in kurzer Frist mehr Anstöße gegeben, Anstößiges gesagt. Aber keiner seiner Sätze hat bisher nachhaltig Wirkung entfaltet. Die Republik ist’s zufrieden, vielleicht deshalb. Der Protestant, der Joachim Gauck in vielerlei Hinsicht ist, wird überhört, weil er in seinem Sein nicht verstört; weil er seine Aufgabe so katholisch, das Ganze betreffend, versieht. Also, noch ist es so – bis er dann einmal den einen Satz sagt, den so schnell keiner vergisst.

Gaucks Rede im Wortlaut lesen Sie hier.

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