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Gegenkultur: Sind so viele Linke

Von der Hamburger Hafenstraße zur Staatsvergötterung: Wie ein "Spiegel“-Redakteur zum Konservativismus konvertierte.

Wer an einem schönen Ausflugstag eine der Barkassen an den Hamburger Landungsbrücken besteigt und die Elbe Richtung Övelgönne hinuntergleitet, am neuen Empire Riverside Hotel vorbei, nähert sich bald acht Altbauten, die rechterhand am Ufer aufragen. Das Erste, was an den Häusern ins Auge fällt, ist die exzeptionelle Lage, direkt am Wasser mit einem wunderbaren Blick über den Hafen. Das Zweite ist die bunte Bemalung, die sich bis zum Dachfirst zieht: Das ganze Bilderreich linker Politkunst ist auf den Hauswänden ausgestellt, von der geballten Faust bis zu Anti-Kapitalismus-Graffiti.

Dies ist die Hamburger Hafenstraße, Postleitzahl 20359, das exklusivste staatlich geförderte Wohnprojekt der Republik. Wer hier lebt, hat nie die Zeit gefunden, sich rechtzeitig um einen Bausparvertrag zu kümmern oder einen Bankkredit, dazu war man zu sehr mit dem Kampf gegen das System beschäftigt. Aber Hamburg ist eine Stadt mit einem Herz für Außenseiter, deshalb ist der Senat der Hansestadt, als es so weit war, für die Bewohner in die Bresche gesprungen und hat ihnen die Häuser für einen Symbolpreis von 229 Euro den Quadratmeter überlassen.

Es ist ein schöner Zug, wenn eine Stadtregierung auch denjenigen zu ungehindertem Elbblick verhilft, die den bürgerlichen Weg der Eigentumsbildung immer verachtet haben. Natürlich kann man sich fragen, ob die Sicherung direkter Elblage für Sozialhilfeempfänger zu den vordringlichen Anliegen einer Kommune zählt, deren Problemviertel eher dort liegen, wo die Aussicht die geringste aller Sorgen ist. Aber das ist letztlich eine soziale Geschmackssache. Die in diesem Zusammenhang bedeutsamere Frage ist: Kann auch das Wohnen im senatsunterstützten Eigenheim noch als revolutionäre Tat durchgehen? Wie weit vertragen sich linker Widerstand und staatliche Förderung?

Nach dem Beispiel der Hafenstraße zu urteilen, muss man sagen: offenbar ganz gut.

Eine Zeit lang galt der Erhalt der Hafenstraße als eines der wichtigsten Vorzeigeprojekte der Linken, eine Art Rote Kapelle im Kohl-Staat. Jeder Hinweis auf die Gesetzeslage nebst Räumungsandrohung löste eine Welle von Solidaritätsadressen aus, schon eine einfache Personalienfeststellung durch die Polizei konnte eine Straßenschlacht entfesseln. Es ist nicht so, dass die Republik in dieser Zeit keine anderen Probleme gehabt hätte: Das Land durchlebte wirtschaftlich schwierige Jahre, dann ging die Mauer auf, und die Deutschen mussten die Wiedervereinigung bewältigen, aber all das verblasste neben der Sorge um das Schicksal der acht Häuser am Hamburger Hafenrand.

Am Hamburger Elbufer wurde also die wirkliche Geschichte geschrieben, und so war ich enorm stolz, als mich meine Redaktion im Januar 1991 ins Berichtsgebiet schickte. Wieder einmal stand die Räumung an, weil die Missachtung des Eigentumsbegriffs sich zum Leidwesen des Senats immer häufiger auch auf geparkte Wagen in der Umgebung erstreckte.

Ein Emissär vom Hafen hatte angedeutet, dass die Bewohner erstmals zu einem Interview bereit sein könnten, ein Scoop, um den sich andere schon lange vergeblich bemüht hatten. Ich war gerade 28 Jahre alt, seit knapp einem Jahr regulärer Redakteur im Innenpolitikteil des „Spiegel“. Ich brannte darauf, mich zu bewähren. Mir zur Seite stand ein erfahrener Kollege, der sich auf Sozialreportagen spezialisiert hatte, eine Gattung, der er sich bis heute verpflichtet fühlt und die ihm viele Auszeichnungen für sein Einfühlungsvermögen eingebracht hat.

Eigentlich sind die Regeln für ein „Spiegel“-Gespräch ganz einfach: Man sitzt für ein, zwei Stunden zusammen und redet, dann wird das Gesagte gekürzt und in Form gebracht und dem Gesprächspartner vor Drucklegung noch einmal zum Gegenlesen vorgelegt. So war ich es gewohnt, aber so funktioniert es natürlich nicht, wenn man mit der Avantgarde der Gegenkultur verabredet ist. Bei dem vereinbarten Termin saßen uns acht Besetzer gegenüber, drei Frauen und fünf Männer, die nach einem komplizierten Schlüssel ausgewählt worden waren und die auch alle gleich lang reden mussten, was den Gesprächsverlauf etwas zähflüssig machte. Die Regeln des Kollektivs verboten jede Sonderstellung Einzelner, eine Vorschrift, die unsere Gesprächspartner sehr ernst nahmen und die leider auf die Originalität der Redebeiträge durchschlug.

Wahrscheinlich hätte ich mir trotz allem meine romantischen Vorstellungen in Bezug auf das „alternative Wohnprojekt“ Hafenstraße bewahrt, wenn uns nicht einer unserer Gesprächspartner in seine Wohnung eingeladen hätte. So stiegen wir an einem Freitagabend das dunkle, graffitiüberzogene Treppenhaus nach oben, vorbei an dicken Stahlarmierungen, allerhand Sperrwerk aus Metall und Beton und anderen martialisch aussehenden Befestigungen für den Fall eines Polizeieinsatzes. Dies war der Moment, auf den wir hingearbeitet hatten: die Erstbesteigung der umstrittensten Häuser der Republik durch ein deutsches Reporterteam, ungehinderter Zugang zum Innersten der revolutionären Festung für die unabhängige Presse.

Wir kamen im vierten Stock an, wir klopften, und dann standen wir im Sanktuarium des Widerstands: abgezogener Dielenboden, pastellfarbene Raufaserwände, in der Küche ein großer Kieferntisch, auf dem schon der Teepott dampfte, daneben eine Küchenzeile mit Geschirrspüler von Miele und einer sich munter drehenden Waschmaschine.

Es war ein ernüchternder Anblick. Ich habe nichts gegen Miele, ich hätte gerne selber eine solche Spülmaschine gehabt. Ich hatte mir unbequeme Gegenkultur nur nie wie eine Seite aus dem Ikea-Katalog vorgestellt. Erstmals beschlich mich der Verdacht, dass ich politischer Hochstapelei aufgesessen war. Dass es bei dem ganzen linken Politbrimborium darum ging, eigennützige Interessen rhetorisch so einzukleiden, dass sie als allgemeindienlich verkauft werden konnten. Dieser Verdacht hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. „Wer Menschheit sagt, will betrügen“, heißt es bei Carl Schmitt. Man muss diesen Satz nicht unterschreiben, aber die Lebenserfahrung lehrt, dass Vorsicht geraten ist, wenn es zu salbungsvoll wird. Je größer der moralische Aufwand, desto trivialer häufig die Motive.

Vielleicht wäre man weniger misstrauisch, wenn mal jemand freiheraus sagen würde, dass es um persönliches Fortkommen geht, um egoistische und durchaus nachvollziehbare Interessen wie mehr Macht, Einfluss, Geld. Aber das wäre zu gewöhnlich, das würde den schönen Schein zerstören, der wohlgefällig über den Dingen liegt. Es würde dann, zugegebenermaßen, auch etwas schwieriger werden, die Massen hinter sich zu versammeln. Wer geht schon auf die Straße, um Jochen, Klaus und Gerlinde zu den TVöD-Gehältern zu verhelfen, von denen sie träumen, wenn es nicht dem Kampf gegen Kinderarmut, Frauenfeindlichkeit oder Rassismus dienen würde?

Wenn die Linke nach Macht strebt, nach Posten und Positionen, dann kann man sicher sein, dass es im Namen einer höheren Idee geschieht. Jede neue Dreiviertelstelle für einen Sozialarbeiter im Bielefelder Transgender-Zentrum bringt uns dem Ziel einer geschlechtsneutralen Gesellschaft näher, jede Beförderung eines als progressiv geltenden Juniorprofessors an der Uni Greifswald ist ein Schritt hin zu einer nichtrepressiven Bildungsrepublik.

Die Linken verstehen da keinen Spaß. Der einfachste Weg, ihren Furor zu entfachen, ist, ein Gespräch über Interessenlagen zu beginnen. Sie werden ganz fuchsig, wenn man ihnen vorhält, dass ihre Motive nicht so nobel seien, wie sie vorgeben. Es heißt dann, man wolle die Sache diskreditieren, für die es einzustehen gilt. Weil alles aus dem vornehmsten Anlass geschieht, setzt sich jeder sofort ins Unrecht, der Zweifel anmeldet. Wer etwa die Gleichstellungsbegeisterung infrage stellt, die Frauen aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit auf vordere Plätze bugsieren will, hat damit gezeigt, dass er in Wahrheit ein Frauenfeind ist. Das Argument, dass man sich der Gleichberechtigung auch nicht durch positive Diskriminierung nähern könne, bedarf gar keiner näheren Betrachtung mehr. Es ist ein narrensicheres System: Die Frage nach den weniger noblen Motiven beweist bereits die Verleumdungsabsicht und hat sich damit von selbst entwertet.

Die Linke hat den eigenen Träumen von einem selbstbestimmten Leben nie wirklich getraut. Die hehren Proklamationen von Gegenmacht und Alternativkultur stehen in auffälligem Widerspruch zur Lebenspraxis. Man sollte erwarten, dass kritischer Anspruch und Staatsferne einander bedingen, aber die revolutionäre Intelligenz hat sich bei ihren Bemühungen um eine andere Gesellschaft hierzulande immer lieber auf staatliche Alimentation verlassen. Sie ist dabei dem verständlichen Impuls gefolgt, dass es sich von der Warte der kündigungssicheren Festanstellung mit dynamisiertem Rentenanspruch besser über das Elend der Gesellschaft philosophieren lässt als aus den zugigen Etagen der selbstfinanzierten Gegenwelt.

Keine politische Altersgruppe hat sich so bereitwillig in die Arme des Staates geworfen wie ausgerechnet die Achtundsechziger. Bei den Veteranentreffen und Erinnerungsrunden fällt dieser Karriereerfolg immer hinten runter, dabei ist er, im Gegensatz zu vielen anderen Errungenschaften, die sich die Altvorderen der Bewegung gerne zurechnen, eine beachtliche und vor allem dauerhafte Leistung. Die Achtundsechziger sind die erste Generation von Linken, die vorbehaltlos in den öffentlichen Dienst gewandert sind, ja, die eine Begeisterung für den Staatsapparat an den Tag legten, der im Nachhinein geradezu kurios anmutet. Es ist heute fast unmöglich, an der Spitze der Verwaltungen einen Uniprofessor, Staatsanwalt oder Richter zu treffen, der nicht irgendwann in den Siebzigern seine Arbeit aufgenommen hat und zumindest zeitweise mit den Zielen von damals sympathisierte.

„Das deutsche Schicksal: vor einem Schalter stehen“, hat Kurt Tucholsky einst trocken bemerkt. „Das deutsche Ideal: hinter einem Schalter sitzen.“ Die deutsche Linke kann stolz von sich sagen, dass sie dieses Ideal für einen Gutteil ihrer Anhänger erreicht hat, zumindest im ersten Anlauf, als die Haushaltskassen noch voll waren und die Renten sicher.

Die Linke war immer geübt darin, die Allgemeinheit für ihre Belange einzuspannen, egal ob es um mietfreies Wohnen an der Elbe oder Beschäftigungsgarantien für die Gefolgschaft geht. Es nötigt einem Respekt ab, wie es ihr gelingt, auch noch den durchsichtigsten Egoismus als gesellschaftlich respektables Unterfangen auszugeben. Sie hat dies alchemistische Prinzip über die Jahre zu wahrer Perfektion gebracht, ohne die Beherrschung dieser Kunst wäre auch ihre größte Karriereleistung, die Okkupation des deutschen Sozialstaats, nicht denkbar.

Der Sozialstaat hat viele Väter, angefangen mit Reichskanzler Otto von Bismarck. Jede Regierung hat sich um seine Weiterentwicklung bemüht, aber erst die Linke hat seine Heiligsprechung zu einer Frage der nationalen Identität gemacht. All ihre ungebundenen patriotischen Energien hat sie auf den Staat geworfen. Weil sie nicht das Land lieben kann, wie sie selber sagt, ist sie zur Staatsvergötterung übergegangen. Die Linke mag keine Nationalhymne und keine Flagge, dafür kennt ihre Begeisterung kein Halten mehr, wenn es um die staatlich organisierte Wohlfahrt geht. Sie spricht dann vom „Modell Deutschland“, an dem sich die anderen mal ein Beispiel nehmen sollten. Das ist ihre Form des Nationalismus.

Jan Fleischhauer

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