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Meinung: Gemalt hat er sie nie

Mit ihrem Großvater ist sie oft zur Kirchenruine spaziert. Mit Mutter und Tochter kehrte unsere Autorin nach Dresden zurück.

In Dresden haben sie meinen Großvater aufgebahrt. Die Verwandten starrten ihn an. Sie fragten sich wohl, wer die Aufbahrung angewiesen hatte. Sie fragten sich, wie sie mit dem blassen Anblick des Vergangenen umgehen sollten. Mit Versäumnissen, Enttäuschungen, mit Erinnerungen.

Einer meiner Onkel scharrte mit den Sohlen. Ein anderer blieb in der Tür zur Trauerhalle stehen. Meine Mutter wirkte irgendwie hilflos, meine kleine, lustige Tante schluchzte laut. Es war mein erster Todesfall. Ich hatte Bonbons in der Tasche und traute mich nicht, einen zu nehmen.

Es war meine Großmutter. Sie hatte für die Aufbahrung gesorgt. Sie war eine Frau, die selten lächelte. Sie redete über Kirche wie über gutes Benehmen. Gottesdienste besuchte sie nicht mehr. Vielleicht wäre sie gern jemand gewesen, der glaubt. Sie trug die Vergangenheit in einem verhärmten Gesicht mit sich herum. Meinem Großvater hatte sie stets einen tiefen Teller an den Platz gestellt und so viel braune Soße über sein Essen gegossen, dass Fleisch, Rotkohl und Kartoffeln darin versunken waren. Mein Großvater hatte das sehr gemocht.

Er sagte nie viel. Seine Frau ordnete an, verteilte Aufgaben und Soße. Soße war das, was ich an Zuneigung von meiner Großmutter kannte. Es gab nie Küsse, keine Berührung. Wenn mein Großvater mit seiner Gabel in der braunen Tunke rührte, schien es, als suchte er unter der Oberfläche nach Liebe. Meine drei Onkel kamen nicht oft zu Besuch. Meine Mutter sagte zu mir: „Wenn ich mal werde wie meine Mutter, dann darfst du mich erschießen.“

Meine Großmutter hat das Leben organisiert. Sie hat eine große Familie durch den Krieg gebracht. Täglich hat sie in der Dresdner Heide nach Beeren und Pilzen gesucht, hat Marmelade, Butter, Brot rangeschafft und versteckt, um es streng zu rationieren. Nachts hat sie die Kinder in den Luftschutzkeller getragen. Sie hat Bombensplitter, die durchs Fenster geschlagen waren, weggeschafft.

Beim Angriff der Westalliierten im Februar 1945 vermisste sie ihren ältesten Sohn. Er kam durch die zusammenbrechende Stadt nach Hause gerannt. Er hatte brennende Menschen in die Elbe rennen sehen. Meine Großmutter konnte ihren Kindern und sich Erlebnisse nicht ersparen. Sie glaubte an nichts mehr. Die einzige Geste, mit der sie sich dem Leben gegenüber noch versöhnlich zeigte, war: wenn sie meinem Großvater viel Soße auftat. Wir haben bei ihr Liebe vermisst. Wir haben es nicht verstanden, gemeinsam danach zu suchen.

Mein Großvater war Architekt. Er malte. Morgens ging er mit Papier, Kohle, Farben los und malte Dresden. Nach seinem Tod fanden wir auf seinen Bildern die Stadt, wie wir sie nicht kannten. Wir fanden das Schloss, die Hofkirche, das Taschenbergpalais, die Semper-Galerie, prächtige Bürgerhäuser, die Frauenkirche. Von der Frauenkirche stand am Neumarkt die Ruine. Auf dem Schuttberg ringsum wuchsen Sträucher und Gras. Obwohl die Stadt mit zahllosen Brachen zwischen den Häusern genug Wunden hatte, war die Ruine der Frauenkirche als Mahnmal stehen geblieben.

Seit Mai 1743 gehörte die Kirche zu den schönsten protestantischen Zentralbauten Deutschlands. Als der venezianische Maler Bernardo Belotto, genannt Canaletto, sie von der anderen Elbseite aus mitsamt den Bauten ringsum gemalt hatte, galt das Altstädter Flussufer als Inbegriff der Stadt. Dresden, das war der „Canaletto-Blick“: prachtvolle Ansicht einer stolzen Stadt. Ein Blick, den die Nachkriegswelt nur noch in der Gemäldegalerie Alte Meister haben konnte.

In der Bombennacht des 13. Februar 1945 suchten hunderte Menschen Schutz im Keller der Frauenkirche. Die Bomben prallten an der Sandsteinkuppel ab, aber durch die Detonationen brachen die Fensterscheiben. Beim zweiten Angriff, einen Tag später, fielen 50 000 Brandbomben. Die Feuerwand brach durch die kaputten Fenster ins Kircheninnere. Die Holzbänke loderten, Flammen kletterten die Emporen hoch, es wurde heißer und heißer. Bei 600 Grad platzt Sandstein auf. Nach dem Angriff stand inmitten der zerstörten Stadt – die Frauenkirche. Noch immer waren im Keller Menschen, hatten kaum Sauerstoff zum Atmen. Sie tauchten die Kleider in Wasserfässer, verhüllten die Köpfe der Kinder mit feuchten Tüchern und liefen durch die brennenden Trümmer an die Elbe. Dort holten sie Luft und überlebten. Am 15. Februar um 10 Uhr 15 blickten sie noch einmal zurück und hielten den Atem an. In dieser Minute konnten die von der Hitze zugerichteten Sandsteinpfeiler der Frauenkirche die Kuppel nicht mehr tragen. Verglichen mit dem Lärm der letzten zwei Tage sank sie still und erschöpft nieder und zerschlug das Gewölbe.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es die Kirchengemeinde der Frauenkirche nicht mehr. Anstelle des Glaubens hatte die Stadt nun ein Mahnmal. Heute sind 80 Prozent der Menschen in Dresden konfessionslos.

Mein Großvater ist oft mit mir zur Ruine spaziert. Ich pflückte Gräser und Blumen am Trümmerberg, band Sträuße. Jeder Stein, auf den ich stieß, war ein Überlebender. Jeder dieser Überlebenden schwieg. Die Ruine sagte mir das, was ich aus Geschichten über den Krieg und die Dresdner Bombennacht wusste. Großvater hockte in ihrem Schatten und döste. Gemalt hat er sie nie.

Die zerstörte Frauenkirche war einmal so etwas wie ein verzweifelter Schrei nach Frieden. Frieden war das, was wir hatten. Im Frieden ist meine Dresdner Familie kaputtgegangen. Todesfälle, Ehescheidungen, Missverständnisse und der Alltag haben sie zerrissen. Meine beiden Tanten zogen mit meinen Cousins davon. Ein Onkel nahm eine neue Frau, die fortan sein Leben beherrschte. Als meine Großmutter starb, hat diese Frau fast alle Bilder und Zeichnungen meines Großvaters an sich genommen. Die Familie traf sich hin und wieder, aber hinter bierseliger Gemeinsamkeit lauerten Missfallen, Vorwürfe, Streite.

Am Grab meines Vaters in Berlin traf ich einen meiner verlorenen Cousins wieder. Wir tauschten stumm Telefonnummern aus. In Dresden trafen wir uns wieder. Er war auf wundersame Weise der Familie so fremd geworden, dass ich mich prompt in ihn verliebte. Jahre später stellte er einen Ausreiseantrag. Sein Vater bekam deswegen Ärger, meine Mutter hier in Berlin auch. Sie bat mich, mit ihm zu reden. Was sollte ich sagen? Ich kannte ihn kaum. Unsere Familie war nicht wirklich eine. Sie hat es geschafft, wie im kleinen Krieg durch Friedenszeiten zu gehen.

Auch das Mahnmal Frauenkirche ist nicht unberührt von den Zeiten geblieben, in denen es auf dem Dresdner Neumarkt stand. Seit Anfang der 80er Jahre zogen im Februar Friedensgruppen mit Kerzen zur Ruine. Sie protestierten gegen Nato-Mittelstreckenraketen. Das war nicht erwünscht, weil die DDR ohnehin gegen die Raketen war. Am Friedensmahnmal standen Staatssicherheit und Polizei. In solchen Protestgruppen steckte Widerstandspotenzial.

Im Februar nach dem Mauerfall bat eine Bürgerinitiative, angeführt vom Trompetenvirtuosen Ludwig Güttler, die Welt um Hilfe für den Wiederaufbau der Kirche. Die Idee hatte viele Gegner: Historiker, Kirchenmänner, Publizisten, Bauleute, Mitglieder der Friedensbewegung. Auch der Dresdner Pfarrer Stephan Fritz schrieb 1992 eine harsche Eingabe an die Synode. Acht Jahre später wurde er zum Bischof gerufen. Man bat ihn, neuer Pfarrer der Frauenkirche zu werden. Vier Wochen lang hat er sich eingeredet: Das machst du auf keinen Fall! Dann hat er den Job angenommen. „Man muss Erfahrungen sammeln“, sagt er, „anstatt an den alten zu kleben.“

Ludwig Güttlers Bürgerinitiative hat weltweit Aufsehen erregt. Ein Förderkreis entstand, eine Gesellschaft zur Förderung des Wiederaufbaus. Sie hat rund sechseinhalbtausend Mitglieder in über 20 Ländern. Fast 15 Jahre lang warb sie um Spenden. Die Menschen gaben ein paar Münzen oder ganze Erbschaften, erwarben Stifterbriefe für 250, 750 und 1500 Euro. Gedenkmünzen und Kollektionen teurer Armbanduhren mit dem Motiv der Frauenkirche sind verkauft worden. In Großbritannien, Frankreich und der Schweiz entstanden Fördervereine. Zu Ehrenmitgliedern von „Friends of Dresden, Inc.“ in den USA gehören David Rockefeller und Henry Kissinger. Der Präsident des Vereins, Nobelpreisträger Günter Blobel, hat fast 820 000 Euro von seinem Preisgeld gespendet.

1995 begannen die Bauarbeiten, im Sommer des folgenden Jahres wurde die Unterkirche geweiht. 1997 entstanden die Innenpfeiler. Die Sandsteinkuppel wurde gemauert. Die Briten kamen nach Dresden, schenkten der Stadt ein neues Turmkreuz. Es wurde im Juni 2004 aufgesetzt. Der Silberschmied, der es bearbeitet hatte, war der Sohn eines Bomberpiloten, der den Angriff auf Dresden mitgeflogen hatte. Stephan Fritz schüttelte dem Schmied die Hand. Am Gerüst ließ er ein Transparent anbringen. „Brücken bauen, Versöhnung leben“, stand da geschrieben. Unzählige Male hatte der Pfarrer in seinem Leben Versöhnung gepredigt. An der Frauenkirche sagt er, dass er die Kraft, die in Versöhnung steckt, nicht wirklich gekannt habe.

Heilung war die Botschaft der Frauenkirche in den letzten 15 Jahren. Es war die Botschaft einer Gemeinde, die aus Architekten, Bauleuten, Spendern und zahllosen Besuchern bestand. Es war die Botschaft im Bau. Der Bau kostete 130 Millionen, ist zu 80 Prozent aus Spenden finanziert. Heilung, das hat sich gezeigt, war nicht nur die Sehnsucht der Dresdner.

Mit der Weihe ist das Gotteshaus fertig. Es braucht jetzt einen neuen Inhalt, eine Gemeinde. Stephan Fritz hat sich eine ausgeguckt. „Wer sich gerade in der Kirche aufhält, ist die Gemeinde.“ Seine Schäfchen werden von überallher kommen und in alle Winde auseinander gehen. Es wird kurze Begegnungen geben. Verbindungen zwischen Menschen, die nie etwas miteinander zu schaffen gehabt hätten, wären sie nicht gerade hier.

Vor anderthalb Jahren bin ich mit meiner Mutter und meiner Tochter nach Dresden gefahren. Das Kind sollte auf den Spuren unserer Familie gehen, meine Mutter sollte die Spuren finden. Zuerst waren wir im Luftschutzkeller. Er war mit Lackfarbe gestrichen und leer. Meine Tochter schaute und schwieg. Das Haus über dem Keller hatte man hell saniert. In der früheren Wohnung meiner Großeltern befand sich ein Anwaltsbüro. Meine Tochter schaute und schwieg. Wir beschlossen, die Wohnung nicht zu betreten.

Es war Februar. Vom Mund meiner Mutter stiegen weiße Wölkchen auf, wenn sie redete. Ich kannte ihre Geschichten längst. Doch irgendwie hörte ich sie jetzt anders als einst. Ich hatte mich verändert. Ich wusste, wie sich Angst anfühlte. Wie es war, sich um jemanden zu sorgen, den man liebte. Wenn man jemanden verlor. Ich wusste, dass ich nichts mehr als eine Heimat brauchte. Dass ich mich bewegen musste, um anzukommen. Dass ich Frieden suchen musste. Mich mit den Enttäuschungen versöhnen. Dass mir ein Mahnmal dabei nicht helfen konnte.

Die Frauenkirche ragte im Februar vor anderthalb Jahren schon wieder aus der Silhouette des Neustädter Elbufers heraus. An der Kuppel wurde gemauert. Zwischen frischem, gelbem Sandstein machten alte, schwarze Steine und Fassadenteile im Bauwerk auf sich aufmerksam. Die Überlebenden sprachen wieder.

Über Bretterwege und Gerüstteile gelangten wir in die Unterkirche. Wir trafen Gottfried Eimert. Der Mann hatte bis 1996 als Polier an der Frauenkirche gearbeitet, seitdem führte er ehrenamtlich Touristen über die Baustelle. Er gehörte zum Besucherdienst, hatte mit seinen Kollegen bereits 850 000 Euro Spenden eingenommen.

Er erzählte von der Kirche. Er führte uns von den Stühlen, auf denen wir saßen, weit zurück in die Geschichte. Ringsum hämmerten und scharrten Bauleute. Die Geschichte lebte. Eimert zeigte einen Film, in dem die Welt die Dresdner Frauenkirche wieder aufbaute. Meine Mutter zitterte. Ich heulte. Meine Tochter knetete einen Geldschein, der in der Hand eines Teenagers ein wirklich dicker Geldschein war. Sie ließ ihn da.

Wie Gottfried Eimert waren die meisten seiner Kollegen, nachdem sie ihre Arbeit an der Frauenkirche beendet hatten, arbeitslos geworden. Sie kamen immer wieder nach Dresden, um sich das Werden des Baus anzusehen. Eimert führte sie. Er erzählte ihnen, dass er eine schwere Krankheit hat. Manchmal stockte ihm der Atem, und es dauerte, bis er einen Satz zu Ende brachte. Er sagte den Besuchern, dass er Kraft in diesen Mauern spüre. Es war die Kraft, ein neues Verhältnis zu seiner Geschichte zu haben. Er sagte den Arbeitslosen, dass sie alle beschützt werden würden. Er strahlte vor Glück.

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