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Meinung: Gereizter Bär

An Russlands Minderwertigkeitskomplexen trägt der Westen eine Mitschuld

Endlich, glauben wir, zeigt er sein wahres Gesicht. Endlich offenbart sich Wladimir Putin als der unbelehrbare kalte Krieger, für den wir ihn schon immer gehalten haben. Zeternd vergleicht er den geplanten Aufbau eines US-Raketenabwehrsystems in Osteuropa mit der Stationierung von Pershing-Raketen im Westdeutschland der achtziger Jahre – und droht gar mit dem Ausstieg aus dem Kontrollvertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE). Das erschreckt uns. Aber es überrascht uns nicht. Von Putins Russland erwarten wir schließlich nichts anderes. Zu Recht?

Sicher, die Russen machen es dem Westen nicht leicht. Ihre von dauergekränkten Schuldzuweisungen geprägte Außenpolitik wird hierzulande ebenso wenig verstanden wie die innenpolitische Nervosität gegenüber jeder noch so harmlosen Oppositionsregung. Putins martialische Rhetorik tut ein Übriges zur Erschwerung des Dialogs.

Am zunehmenden Rückfall in die Atmosphäre des Kalten Kriegs aber trägt auch der Westen Schuld. Wenn etwa US-Außenministerin Condoleezza Rice die russischen Bedenken als „lächerlich“ abtut und im gleichen Atemzug von „sowjetischer Abschreckung“ spricht, wo sie „russische“ meint, muss man sich schon fragen, ob unser Russlandbild nicht allzu oft von alten Denkmustern geprägt ist. In der öffentlichen Wahrnehmung des Westens rangiert Russland, was seine demokratische Entwicklung angeht, inzwischen auf einer Stufe mit Ländern wie China – trotz nach wie vor freier Wahlen, der Existenz einer parlamentarischen Opposition und eines Restbestands regierungskritischer Medien. Zu Recht stören sich viele Russen an dieser ungerechtfertigten Pauschalablehnung, die ihrem Land von Westen her entgegenschlägt – auch deshalb lässt sich in Russland immer besser mit antiwestlicher Rhetorik punkten.

Putins Skepsis gegenüber der westlichen Militärstrategie hat aber aus seiner Sicht auch handfeste Gründe. Russland hat den KSE-Vertrag ratifiziert, die Nato bislang nicht – der Grund sind Russlands verbleibende Truppen in Georgien und Moldau, deren Abzug das Abkommen vorsieht. Gleichzeitig werben Teile der Nato-Führung vehement für eine Integration Georgiens und der Ukraine. Diese Verschiebung der Kräfteverhältnisse in Europa wird in Russland als Fortsetzung jener „Einkreisung“ empfunden, die nach der deutschen Wiedervereinigung und der EU-Osterweiterung die Nato immer dichter an Russlands Landesgrenzen rücken ließ – trotz anderslautender Zusagen an Putins Amtsvorgänger Jelzin und Gorbatschow.

Im eigenen Interesse sollte der Westen den schwierigen Dialog mit Russland nicht aufgeben. Über die nähere Zukunft des Landes weiß man bislang nur, dass Putin sie nicht mehr als Präsident mitgestalten wird. Was nach ihm kommt, ist unklar, weil Russland innenpolitisch längst nicht so gefestigt ist, wie es die Außensicht auf Putins Machtvertikale suggeriert. Vieles ist nach seinem Abgang vorstellbar: eine Verschärfung polizeistaatlicher Tendenzen unter dem Nachfolgekandidaten Sergej Iwanow, aber auch ein linksnationalistisches Bündnis jener Kräfte, die schon jetzt mit massiv antiwestlicher Rhetorik für sich werben.

Bei allen Differenzen hat sich Putin – auch gegenüber der eigenen Bevölkerung – bis zuletzt als Partner des Westens positioniert. Ob sein Nachfolger das auch tut, wird nicht zuletzt davon abhängen, welche Perspektive Europa Russland bietet. Seit Peter der Große vor drei Jahrhunderten das sprichwörtliche „Fenster nach Europa“ aufstieß, ist die Geschichte des Landes ein stetiges Schwanken zwischen der Annäherung an den Westen und der Suche nach einem Sonderweg.

Putins beleidigtes Getöse hin oder her: Russlands Eliten waren nie eindeutiger westorientiert als seit dem Ende der Sowjetunion. Für Europa bedeutet das immense Chancen – wirtschaftliche, sicherheitspolitische, vor allem aber die Möglichkeit einer Einflussnahme in unserem, in einem demokratischen Sinne. Nichts spricht dafür, diese Möglichkeit ohne Not aufzugeben.

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