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Meinung: Gern beleidigt

Angst vor der Vergangenheit: Die Verunglimpfung des „Türkentums“ soll strafbar bleiben

W as ist nur schief gelaufen in der Türkei? Ein Teenager lässt sich von einem zehn Jahre älteren Freund zum Todesschützen ausbilden und bringt einen prominenten Journalisten um. Als beide festgenommen werden, stößt der Freund des Mörders Drohungen gegen den berühmtesten Schriftsteller des Landes aus. Und beide fühlen sich dabei als aufrechte Patrioten, die das Vaterland vor „Verrätern“ wie Hrant Dink und Orhan Pamuk schützen müssen.

Der wichtigste Grund für das, was Dink angetan und Pamuk angedroht wurde, ist die Unfähigkeit der modernen Türkei, sich offen, ehrlich und friedlich zu ihrer Geschichte und zur ethnischen Vielfalt ihrer Bevölkerung zu bekennen. Dass 1915 so viele Armenier umkamen, war eine „Tragödie“, sagt die Regierung in Ankara schulterzuckend. Jeder, der das anders sieht, kratzt am Selbstverständnis der türkischen Republik als historisch „sauberer“ Staat.

Türken wie Dink und Pamuk haben eine Diskussion über den Völkermord an den Armeniern angestoßen. Aber weil die offizielle Türkei und die allermeisten Bürger immer noch auf dem Standpunkt stehen, dass nicht sein kann was nicht sein darf, gelten Dink, Pamuk und andere als Nestbeschmutzer oder Verräter. Im Fall Dink kommt noch das Problem hinzu, dass die Türkei aus Angst um ihre staatliche Einheit die ethnische und religiöse Vielfalt ihrer Menschen als Gefahr sieht. Armenier, Griechen, Juden und andere Minderheiten werden mit Misstrauen betrachtet.

Nimmt man diese beiden Elemente – eine als potenziell staatsfeindlich betrachtete Debatte und das Misstrauen gegen die Minderheiten – zusammen, dann erhält man eine giftige Mischung, die bei Rechtsextremisten leicht die kritische Masse für Gewalttaten erreicht. Diese Entwicklungen müssen nicht als unabänderlich hingenommen werden. Die Regierung in Ankara, die im Parlament über eine große Mehrheit verfügt, könnte die Gesetze so ändern, dass niemand mehr befürchten muss, wegen angeblicher „Beleidigung des Türkentums“ vor Gericht zu kommen. Aber die Regierung zögert. Sie will sich im Wahljahr 2007 nicht den Vorwurf handeln, das „Türkentum“ – was immer das ist – der Beleidigung preiszugeben. Eine völlige Abschaffung des „Türkentum“-Paragrafen 301 komme nicht in Frage, bekräftigte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan jetzt. Allenfalls über eine Abänderung will er mit sich reden lassen.

Erdogan hätte beim Trauerzug für Dink in der ersten Reihe marschieren können. Er hätte den Rechtsnationalisten so zeigen können, dass die eigentlichen Patrioten jene Türken sind, die die Meinungsfreiheit verteidigen. Aber Erdogan wollte nicht. Er kritisierte sogar die Solidaritätsbekundungen für die Armenier beim Trauermarsch.

Nun dürften die Türkeigegner in der EU den Mord an Dink als neuen Beweis für ihre These präsentieren, dass die Türken eben doch eher orientalische Barbaren als zivilisierte Europäer sind. Schwerer wiegt, dass die Regierung Erdogan selbst Zweifel an ihrer Europafähigkeit sät, indem sie Konsequenzen aus der Gewalttat verweigert. Den Mord als Aktion von ein paar Verrückten abzutun, ist aber nicht nur falsch, sondern auch gefährlich – für Pamuk und andere, die als nächste an der Reihe sein könnten.

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