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Gerwerkschaften: Das Ende der Solidarität

Nach dem Motto "Jeder für sich“ streikten erst die Piloten, dann die Ärzte und jetzt die Lokführer - denn die Arbeitskämpfe werden brutaler. Das Ende des Prinzips "gleicher Lohn für gleiche Arbeit"?

Kein Zweifel: Der Streik der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) wird als besonderes Kapitel in die Annalen der deutschen Tarifpolitik eingehen. Dafür gibt es drei Gründe. Erstens haben es die Lokführer wie kaum eine andere Gewerkschaft geschafft, das öffentliche Interesse derart prominent auf sich zu ziehen. Keine Nachrichtensendung, kein Zeitungsaufmacher ohne neue GDL-Ultimaten, ablehnende Bahn-Verlautbarungen, orakelnde Expertenmeinungen, genervte Bahnkunden und geplagte Produktionsunternehmen.

Die Ursache dieser massiven medialen Präsenz: Der Streik trifft eine Gesellschaft ins Mark, für die grenzenlose Mobilität rund um die Uhr selbstverständlich geworden ist. Wer als berufstätiger Hauptstädter regelmäßig für einen Tagestrip zum Workshop nach London fliegt, will nicht hinnehmen, dass ihn die S-Bahn früh morgens nicht von Tiergarten nach Schönefeld bringt. Zweitens wird der Arbeitskampf in einer für deutsche Verhältnisse ungewöhnlichen Härte ausgetragen. Dass ein Großunternehmen versucht, einer Gewerkschaft das Streikrecht vor Gericht abspenstig zu machen, ist ebenso selten wie der Brauch der Alphatiere beider Lager, sich als "Rumpelstilzchen“, "Außerirdische“ oder "terroristische Vereinigung“ zu verunglimpfen. Selten auch, dass eine Schlichtung vor Streikbeginn, ein eigentlich bewährtes Mittel zur Einigung in letzter Minute, keine Ergebnisse brachte.

In Zukunft nur noch "Mini-Streiks"?

Die dritte Besonderheit ist die wichtigste, weil sie weit über den Bahnkonflikt hinausweist. Indem die Lokführer einen eigenständigen Tarifvertrag einfordern, rütteln sie an einem Grundpfeiler deutscher Tarifpolitik: Für jeden Betrieb soll nur eine Gewerkschaft zuständig sein, egal ob die Beschäftigten Züge steuern, Weichen putzen oder Fahrkarten verkaufen. Was auf den ersten Blick aussieht wie eine rein bürokratische Vertragsangelegenheit, hat enorme gesellschaftliche Brisanz.

Die Befürchtung lautet: Ein eigener Tarifvertrag für Lokführer würde auch andere Berufsgruppen animieren, sich aus der Gemeinschaft der Beschäftigten in DGB oder Beamtenbund zu verabschieden. Neue Klein- und Kleinstgewerkschaften entstünden, und auch Deutschland hätte seine "englische Krankheit“ – zahllose Ministreiks würden die Lebensadern der Kommunikations- und Dienstleistungsgesellschaft verstopfen. Irgendeine Berufsgruppe, so die Sorge, wird immer streiken. Die Folgen für die Volkswirtschaft wären katastrophal. Gibt die Bahn der GDL jedoch nicht nach, so könnte dies manchen Berufsstand abschrecken, sein tarifpolitisches Süppchen in Zukunft alleine zu kochen.

Cockpit und Marburger Bund als Wegbereiter

Allein: Diese Hoffnung wird sich nicht erfüllen. Der Lokführerstreik kann deshalb keine Zersplitterung von Löhnen und Arbeitszeiten nach Berufsgruppen mehr auslösen, weil dieser Prozess bereits in vollem Gange ist. Dieser Streik ist nur der bislang schmerzhafteste. Den Startschuss aber hatte die Pilotenvereinigung Cockpit im Jahr 2001 gegeben, als sie, nach mehrtägigen Streiks, der Lufthansa Gehaltssteigerungen von rund 30 Prozent abrang. Auch die Ärztegewerkschaft Marburger Bund setzte nach zahlreichen Arbeitsniederlegungen im Jahr 2006 eigenständige Tarifverträge durch. Seit 2004 versuchen auch die deutschen Fluglotsen ihr Glück allein: Nach ihrer Trennung vom Tarifriesen Verdi und ihrer Anerkennung als Gewerkschaft verhandeln sie ihre Tarife direkt mit der Deutschen Flugsicherung. In Zukunft werden weitere Berufsgruppen aus dem Gefüge der DGB-Gewerkschaften und des Beamtenbundes ausscheren und versuchen, eigene Tarifverträge auszuhandeln.

Was aber macht diese Kleinstgewerkschaften so schlagkräftig? Mindestens drei Eigenschaften sind zu nennen. Erstens handelt es sich um Berufe, die ein hohes Maß an speziellen Qualifikationen erfordern und die umfassende praktische Erfahrung voraussetzen. Aus dieser Spezialisierung schlagen Lokführer- wie Ärztegewerkschaften Kapital im Arbeitskampf. Berufliche Spezialisierung macht sie kurzfristig unersetzbar, sie verleiht ihnen die Macht, die Gesellschaft empfindlich zu treffen. Weil die Aufgaben dieser Berufsgruppen nicht auf andere Beschäftigte übertragen werden können, bleiben Züge stehen, Patienten krank und Flugzeuge am Boden.

Berufe mit hohem gesellschaftlichen Ansehen

Zweitens haben diese Berufe eine für postmoderne Gesellschaften eigentümlich starke berufliche Identität, den Handwerkerzünften des 19. Jahrhunderts vergleichbar. Lokführer oder Arzt zu sein, ist für diese Beschäftigten mehr als nur Züge lenken oder Kranke heilen. Es ist eine Berufung in einem Amt, das die ganze Person ausfüllt. Das Amt ist aus Sicht der Inhaber zentral für das Funktionieren der ganzen Gesellschaft. Dieser Glaube an die eigene Bedeutsamkeit schweißt zusammen.

Drittens handelt es sich um Berufe mit hohem gesellschaftlichen Ansehen. Soziologen wissen seit Jahren, dass Ärzte von allen Berufen die höchsten Prestigewerte haben. Und welcher kleine Junge wollte nicht irgendwann mal Pilot oder Lokführer werden? Hohes Ansehen führt nun dazu, dass die Öffentlichkeit ihren Lohnforderungen mehr Verständnis gegenüber aufbringt, als sie dies für Müllwerker oder Gebäudereiniger übrig hätte. Auch dies ein Grund dafür, warum ein derart kräftiger "Schluck aus der Pulle“ wie die 30-Prozent-Forderung der Lokführer keinen öffentlichen Aufschrei hervorgebracht hat.

Es geht um gesellschaftliche Anerkennung

Ausgeprägte berufliche Spezialisierung, starke Gruppenidentität und hohes soziales Ansehen sind die ideale Voraussetzung dafür, dass Berufsgruppen schlagkräftige Kleinstgewerkschaften gründen. Damit sie aber auch wirklich hart zuschlagen, muss eines hinzukommen, was in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewinnt: die Überzeugung, ungerecht entlohnt zu werden. Arbeitskampf ist für streikende Berufsgewerkschafter mehr als nur Streben nach mehr Geld. Es geht auch und gerade um gesellschaftliche Anerkennung. Der eigene Tarifvertrag ist das wichtigste Symbol dieser Anerkennung. Die Angehörigen der Kleinstgewerkschaft glauben, dass ihre Leistung viel zu wenig wertgeschätzt wird. Aus ihrer Sicht haben sie massive Verantwortung für das Wohl und Wehe von Patienten, Fahr- oder Fluggästen zu tragen.

Innerhalb der großen Einheitsgewerkschaft erhalten sie dafür aber keinen angemessenen Ausgleich. Denn Einheitsgewerkschaften sind große Nivellierungsmaschinen. Sie achten peinlich darauf, dass die Löhne ihrer Mitglieder nicht allzu ungleich werden. Erst die Befreiung aus der Umarmung von Verdi & Co macht es den spezialisierten Berufsgruppen möglich, endlich einzufordern, was ihnen doch schon immer zugestanden hat. Scheinbar exorbitante Lohnforderungen sind für sie berechtigter Ausgleich für erfahrene Ungerechtigkeit, die sich über Jahrzehnte aufgestaut hat.

Ideologisierung des Arbeitskampfes

Allzu häufig aber stehen die Kleinstgewerkschafter mit ihrer Gerechtigkeitsempfindung alleine da. Denn naturgemäß hat der Arbeitgeber seine ganz eigenen Vorstellungen von Gerechtigkeit. Darin haben 30-Prozent-Forderungen und eigene Tarifverträge keinen Platz. Für den Arbeitgeber sind sie der illegitime Versuch einer Minderheit, die Mehrheit zu erpressen. Das aber macht die Berufsgewerkschafter erst recht ärgerlich. Anstatt endlich die zustehende Anerkennung zu erhalten, wird ihnen "reine Abzocke“ vorgeworfen. Die Folge ist: Die Fronten verhärten sich, Kompromissbereitschaft wird als Verrat an der legitimen Sache gedeutet, der Arbeitskampf eskaliert.

Missachtete Gerechtigkeitsempfindungen sind damit Brandbeschleuniger im Tarifkonflikt. Das erklärt unter anderem die Unnachgiebigkeit, mit der GDL, Marburger Bund und andere an ihren überzogenen Streikzielen festhalten. Es erklärt aber auch, wieso die Arbeitgeberseite auf stur stellt. Anstatt Kompromissbereitschaft zu zeigen, bemüht sie die Arbeitsgerichte, beantragt einstweilige Verfügungen und versucht, Streikverbote durchzusetzen.

Deregulierung der Arbeistwelt fördert die Aufspaltungen

Bleibt die Frage, warum die Berufsverbände erst seit den vergangenen Jahren vermehrt aus dem Verbund der Großgewerkschaften ausscheren und ihr Heil im eigenständigen Tarifvertrag suchen. Schließlich gibt es Berufsgewerkschaften schon lange. Der Vorläufer der GDL wurde 1867 gegründet, der Marburger Bund existiert seit 1947. Sicher gibt es dafür viele Gründe. Einer jedoch scheint besonders wichtig. Die Inhaber spezialisierter Berufe haben gelernt, dass eigenständiger Arbeitskampf, der unter Arbeitnehmern noch bis in die 1990er Jahre als unsolidarisch gegeißelt worden war, heute als legitime Strategie der Interessendurchsetzung gilt. Dieser Legitimitätswandel ist die ungewollte Folge der Deregulierung der Arbeitswelt, die in den letzten 15 Jahren stattgefunden hat.

Diese Deregulierung hat zwei Seiten. Die erste Seite ist die der Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse. Arbeitnehmer haben sich über Jahre mühsam den stetig ändernden Bedürfnissen der Unternehmen anpassen müssen. Befristete Beschäftigung, Leiharbeit und Minijobs führen zu häufigen Arbeitgeberwechseln. Entgrenzte Arbeitszeiten gibt es nicht nur im Einzelhandel, Schichtarbeit und Überstunden sind mancherorts Regel statt Ausnahme. Weiterbildung ist zur Privatsache geworden, lebenslanges Lernen findet in der Freizeit statt. Zusammengenommen führt Flexibilisierung dazu, dass Beschäftigte kaum noch positive Bindungen zu "ihrem“ Unternehmen aufbauen können. Denn Loyalität und Vertrauen zum Unternehmen setzen stabile und dauerhafte Beschäftigungsverhältnisse voraus, die durch Flexibilisierung gerade aushöhlt wurden. Die Folge: Aus Arbeitnehmern werden Arbeitskraftunternehmer, immer auf der Suche nach der optimalen Rendite ihres Humankapitals.

Arbeitgeber gingen mit dem Rückzug aus dem Flächentarif voran

So nimmt es kaum Wunder, dass jene Beschäftigten, deren Berufe an den Schaltstellen von Produktion und Dienstleistung angesiedelt sind, sich erst in den letzten Jahren ihrer Macht erstmals klar bewusst werden. Weil Loyalitäten zum Unternehmen fehlen, sind sie immer öfter bereit, von dieser Macht auch Gebrauch zu machen.

Die andere Seite der Deregulierung findet im Tarifsystem statt. Viele Unternehmen haben sich aus dem Flächentarif zurückgezogen. Andere weichen offen von den Regelungen ab, die ihr Verband für sie ausgehandelt hat. Mancherorts wurden Betriebsräte vor die Alternative Lohnsenkung oder Produktionsverlagerung gestellt. Um den Flächentarif zu retten, haben die Großgewerkschaften notgedrungen Öffnungsklauseln zugestimmt, die für Unternehmen unbezahlte Arbeitszeitsteigerungen oder Bezahlung unter Tarif möglich machen. Alles in allem haben Arbeitnehmer zur Kenntnis nehmen müssen, dass der alte Grundsatz "gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ immer weniger in die neue Arbeitswelt passt. Damit wird Einkommensungleichheit wieder gesellschaftsfähig.

Stunde der Spezialisten

Dies ist die Stunde der spezialisierten Berufsgruppen. Denn anders als die Großgewerkschaften können sie sich effektiv gegen Lohnsenkung wehren. Anstatt also mit Verdi & Co zu den Opfern der Deregulierung zu gehören, erscheint es ihnen gerechtfertigt, die Deregulierung selbst in die Hand zu nehmen. Wer wollte ihnen das verübeln?

Starke Berufsgewerkschaften sind die unvorhergesehenen Profiteure der Deregulierung von Arbeit und Lohnpolitik. Weil es in Zeiten globaler Marktkonkurrenz aber kaum Alternativen zu Deregulierung und Flexibilisierung gibt, werden wir uns an sie und ihre schmerzhaften Arbeitskämpfe gewöhnen müssen. Daran kann der Ausgang des Lokführerstreiks nichts mehr ändern. Dieser Zug ist längst abgefahren. Andere Berufsgruppen wie beispielsweise Krankenschwestern oder Kindergärtnerinnen könnten folgen. Und kein Goethescher Meister weit und breit, dem man als Zauberlehrling zurufen könnte: Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.

Holger Lengfeld

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