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Gesellschaftlicher Großkonflikt: Anti-Atombewegung: Nur fast wie früher

Wer begreifen will, wieso der Streit um die Atomkraft dieses Land bis heute spaltet wie kein anderer, muss an die Anfänge zurück. Von Wyhl am Rhein bis zu Fukushima: eine Psychohistorie der deutschen Anti-Atombewegung.

Von Robert Birnbaum

Wenn der Vater leise fluchend in der Schublade unten rechts rumwühlt, dann ist er auf Tauchfahrt in die eigene Vergangenheit. Der Sohn kennt das schon, deshalb lässt er die Ohrhörer vom iPod drin. Dass Mutter den angestaubten Koffer vom Kleiderschrank wuchtet, ist allerdings lange nicht passiert. Außerdem liegt ein seltsamer Glanz in ihren Augen, als sie das lila karierte Halstuch hervorzerrt. Vater ist ebenfalls fündig geworden: Da ist der Sticker! „Atomkraft – Nein Danke“ Ein Original! Er hat Gorleben gesehen, Kalkar, Wackersdorf … Vater lächelt versonnen. Dann schnappt er sich Mutter und die zwei küssen sich wild, und dann knallt die Tür hinter ihnen zu: „Wir sind weg zur Demo!“ Der Sohn nimmt die Ohrhörer nun doch mal raus. So hat er seine Alten ja noch nie erlebt. Irgendwas, denkt er, irgendwas hab’ ich da jetzt verpasst.

Wollen wir ihn also aufklären über den letzten gesellschaftlichen Großkonflikt, der noch aus der alten Republik in die neue Zeit hineinragt? Nötig wäre das, und nicht nur für ihn. Die Katastrophe von Fukushima hat den Streit aufbrechen lassen, als wäre es gestern. Und da, genau in diesem Halbsatz liegt das Problem. Die bitteren Gefühle der vergangenen Schlachten sind noch alle da. Das wäre an sich nicht weiter schlimm. Aber sie drohen den Blick auf die Gegenwart zu verschleiern und den Weg in die Zukunft zu verstellen. Deine Zukunft, junger Mann mit dem iPod! Also hör’ vielleicht jetzt kurz mal zu.

Wer begreifen will, wieso der Streit um die Atomkraft dieses Land bis heute spaltet wie kein anderer, muss an die Anfänge zurück. So lange sind die 60er und 70er Jahre noch gar nicht her – bloß ein halbes Jahrhundert. Aber können wir uns das noch vorstellen, selbst wir, die dabei waren? Halb Deutschland fährt VW Käfer, seit 1967 sogar erhältlich mit Dreigang-Halbautomatik. Im gleichen Jahr strahlt das Fernsehen erstmals Farbe aus. Telefone haben Wählscheiben. Die zwei Supermächte testen ihre Atomwaffen oberirdisch. Und natürlich ist Atomkraft die Energie der Zukunft: Sauber, modern, ein Triumph der friedlichen Technik über die rohe Gewalt der Bombe. 1969 setzte Neil Armstrong seinen Fuß auf den Mond. Selbst das Weltall war für die Menschheit keine Grenze mehr.

Na, junger Mann, allmählich eine Ahnung davon, wie es damals war, wie sich Technikbegeisterung anfühlte, wie Zukunft roch? Gut. Dann können wir jetzt einen Blick auf die andere Seite werfen. Dort müffelt es nach Räucherstäbchen und biodynamischen Möhren. Drei Jahre nach dem Mann im Mond erscheint ein Buch, das garantiert noch im Bücherregal deiner Eltern steht, ein dicker Wälzer, vom Zweitausendeins-Verlag preiswert vertrieben. Dennis Meadows und sein Team hatten im Auftrag des Club of Rome die „Grenzen des Wachstums“ vermessen. Ihr Befund war im Detail oft falsch, aber im Prinzip nur allzu klar: Die Erde ist endlich. Es gibt Grenzen. Links daneben fand sich im typischen Studentenzimmer jener Tage ein zweites Buch: Erich Fromms „Haben oder Sein“, ein Plädoyer gegen das materialistische Modell vom Glück, das in den Wirtschaftswunderjahren geprägt und im Systemwettstreit in Ost wie West zur Perfektion getrieben worden war. Die Überzeugung, dass diese Art von Fortschritt zerstörerisch für den Planeten wie für das Seelenleben seiner Bewohner ist, wurde zum gemeinsamen Nenner der Umwelt- und Alternativbewegung.

Die Atomkraft erwies sich als das ideale Feld, um diese Auseinandersetzung auszutragen. Es ging nie um bloße Energiepolitik. Es ging um das richtige Verständnis von Fortschritt. Man kann auch ruhig pathetisch sagen: Es ging ums ganze Leben.

Man braucht sich bloß die Kontrahenten anzuhören. „Gorleben soll leben“ lautet, leicht apokalyptisch getönt, die Parole der Endlagergegner. Den Schlüsselsatz der Atomfreunde hat Hans Filbinger geprägt. „Ohne das Kernkraftwerk Wyhl“, prophezeite der CDU-Ministerpräsident 1975 im Stuttgarter Landtag, „werden zum Ende des Jahrzehnts in Baden-Württemberg die ersten Lichter ausgehen.“

Das ist bekanntlich nicht geschehen. Trotzdem hat Filbinger aus seiner Sicht nicht so unrecht gehabt, wie es im Nachhinein erscheint. Darüber wird noch zu reden sein. Erst einmal klären wir aber eine andere Frage: Wieso ein intellektueller Modetrend in die hartnäckigste und stärkste Antibewegung der Republik mündete.

Reisen wir zu diesem Zweck in Gedanken wieder ein knappes halbes Jahrhundert zurück, diesmal nach Wyhl an den Kaiserstuhl. Die Bewohner der beschaulichen Winzer-Gemeinden machten sich dort 1973 ihre eigenen Gedanken über den Fortschritt. Die Gedanken waren düster. Mitten ins Rheintal sollte ein Kernkraftwerk gebaut werden. Das Kernkraftwerk sollte Strom liefern. Viel Strom. Für viel Industrie. Ein „Ruhrgebiet am Oberrhein“? Nicht mit ihnen. Kühltürme, deren Nebelschwaden das milde Kleinklima stören könnten, das den Kaiserstühler Wein so vortrefflich gedeihen lässt? Nicht mit ihnen. Die Antiatombewegung begann als Widerstand der konservativen Provinz gegen die Zumutungen der Moderne. Fortschritt? Nein, danke, brauchen wir nicht.

Zur Bewegung wurde der bäurische Unmut erst durch die Besucher von der nahen Uni Freiburg, die bald in den Dörfern vorbeischauten: Studenten, junge Dozenten. Sie schlugen Protestcamps auf dem Baugelände auf. Die Bauersfrauen brachten den neuen Verbündeten Schnaps und Butterbrote. Die Antiatombewegung erwies schon in diesen ersten Anfängen ihre größte Stärke: Sie ist mit vielen, sogar gegensätzlichen Strömungen kompatibel. Auf Widerstand gegen Atomkraftwerke und Wiederaufarbeitung können sich linke Antikapitalisten mit reaktionären Romantikern einigen, Parteifunktionäre mit Hobby-Vogelkundlern, Wissenschaftler mit Hysterikern, besorgte Mütter mit asketischen Christen und die wieder mit heidnischen Kräuter-Omas. Der Wutbürger ist nicht am Stuttgarter Bahnhof entstanden, sondern im Wyhler Wald.

Das gab dem Atomprotest eine Wucht, die die Bewegungen davor und danach nie erreichten. Zugleich sorgte eine kleine List der Weltgeschichte dafür, dass er nie von den geschulten Linkskadern der 68er-Bewegung gekapert werden konnte: Der real existierende Lenin- oder Maoist hatte zwar etwas gegen Atommeiler in Kapitalistenhand – volkseigene Strahlung galt in diesen Zirkeln noch nach Tschernobyl als fortschrittlich.

Schließlich kam zur Breite die Tiefe. Die Akademiker brachten ihr Fachwissen auf den Bauplatz mit. Im hölzernen Rundbau des „Freundschaftshauses“ entstand die Volkshochschule Wyhler Wald; Chemiker hielten Vorträge über die Auswirkungen von Kühltürmen, Heimatforscher referierten über „Brauchtum und Volkskunde“. Und zunehmend brachen die alternativen Experten in die Fachgebiete ein, auf die bis dahin ihre Widersacher das Monopol hatten: Verwaltungsrecht und Atomtechnik. 1977 gab das Verwaltungsgericht Freiburg den Kritikern recht und verlangte einen „Berstschutz“ für den geplanten Reaktor. Die Methode prägte eine ganze Protestform. Keine Bürgerinitiative, die nicht versucht, gegen Flughäfen, Straßen, Industrieanlagen ihre eigenen Experten zu schaffen.

Die Politik hat auf diesen Angriff auf das amtliche Wissensmonopol denkbar schlicht reagiert: mit Ignoranz. Das klingt böser, als es gemeint ist. Politiker können komplizierte technische Sachverhalte nur selten selbst beurteilen. Sie müssen sich auf Experten verlassen. Die Politik verließ sich lieber auf die Experten mit Schlips als auf die mit langen Haaren.

Zur besseren Begründung ihrer Wahl erklärte sie die mit den langen Haaren dann noch zu befangenen Ideologen – Kerle, die jeden Haarriss in Reaktorrohren zur Super-GAU-Quelle aufblasen. Das fiel um so leichter, als die größte Stärke der Bewegung zugleich ihre größte Schwäche war: In dem bunten Haufen, der gegen das Atom auf die Straßen zog, fanden sich eben auch Spinner, Aufgeregte und Verschwörungstheoretiker.

Erst neuerdings trifft man wichtige Regierungspolitiker, die hinter vorgehaltener Hand einräumen, dass die Langhaarigen vielleicht doch hier und da richtig lagen. Ein starkes Rhein-Hochwasser könnte für das Kühlsystem in Biblis ähnlich fatal sein wie der Tsunami für Fukushima? Hm. Interessant.

Das ist übrigens, junger Freund, einer der Gründe, die deine Eltern in der alten Kampfkluft auf die Straße getrieben haben: diese vorgehaltene Hand. „Zäsur“ hat die Kanzlerin gesagt, als Fukushima explodierte, und „Moratorium“. Einen Satz hat sie nicht gesagt: Atomkraftwerke sind nicht nur in der Hand betrunkener Russen gefährlich, nüchterne Japaner haben sie auch nicht im Griff – ihr hattet recht.

Der zweite Grund ist bei Helmut Kohl nachzulesen. Der Altkanzler hat am Freitag per „Bild“ noch einmal seine Mottenkiste aufgemacht. Keine Rolle rückwärts. Das Land, dessen Kernkraftwerke zu den sichersten der Welt gehören. Das Land, dessen Ingenieurskunst die ganze Welt bewundert. Vor allem aber steht da dieser eine Satz: „Ein überhasteter, einsamer Ausstiegs aus der Kernenergie würde das Fundament unserer Industriegesellschaft aushöhlen.“

Das meint das Gleiche wie Filbingers Spruch von den erlöschenden Lichtern. Nur dass der Baden- Württemberger auf seine Weise 1975 recht hatte und Helmut Kohl im Jahr 2011 nicht.

Dass Filbinger nicht völlig falschlag, solltest du, junger Mann, deinen Eltern übrigens nicht gleich sagen, wenn sie beschwingt vom Demonstrieren zurückkommen. Sie hören das nicht gern. Es passt nicht in ihr Feindbild von den profitgierigen „Doktor Seltsams“ der anderen Seite. Es stimmt aber. Du kannst das überprüfen, wenn du sie bittest, die alten Broschüren über alternative Energien hervorzukramen. Auf graues Recyclingpapier sind die gedruckt, Bastelanleitungen für Enthusiasten: Wie man aus einem alten Eichenbalken einen Propeller hobelt, den auf eine Käfer-Achse schraubt und damit eine Auto-Lichtmaschine antreibt. Für Deine Kopfhörer hätte der Strom gereicht. Für den Spiele-PC mit der Supergrafikkarte nicht.

Die Wahrheit ist, dass sich vor 40 Jahren die Frage nach einer technischen Alternative nicht stellte. Kohle war schmutzig, russisches Gas lag hinter dem Eisernen Vorhang, für Wasserkraft fehlt die Geografie. Das erste große Windrad „Growian“ wurde nach vier Jahren endloser Pannen 1987 verschrottet. Eine Industriegesellschaft ohne Atomstrom war zu Filbingers Zeiten theoretisch denkbar. Praktisch machbar war sie noch nicht. Die Atomkraft war der Preis für die Industriegesellschaft.

Aber eben: „war“. Ein halbes Jahrhundert später sind die Alternativen greifbar – auch nicht problemlos, gewiss, aber was für ein ökonomisches Potenzial für unsere bewunderte Ingenieurskunst! Potenzial für – Wachstum. Altkanzler, merken Sie was? Die Schlacht ist vorbei. Es geht nicht mehr darum, ob wir Hütten in den Wäldern bauen und von selbst gezüchteten Mohrrüben leben müssen. Es geht nicht mehr um den Fortschritt, ums Prinzip, um die Verteidigung des Abendlandes.

Viele haben das noch nicht gemerkt. Vielleicht geht es ihnen ja auch einfach so wie den Lemuren. Man muss nur nach Gorleben fahren, um die zu treffen. Ein Stück neben der Schachtanlage, die vielleicht einmal ein Endlager für den Strahlenmüll werden soll, steht eine größere Fabrikhalle. Dort ist die Pilot-Konditionierungsanlage aufgebaut. In ihr sollten alte Atombrennstäbe zerlegt werden. Daraus ist bisher nichts geworden. Jetzt steht die Anlage da rum, blitzblank, Roboterarme mit Gummimanschetten, an den Enden Zangen hinter zentimeterdicken Glasscheiben, allzeit betriebsbereit. Dafür sorgen die Lemuren. Als sie jung waren und Kerntechnik studierten, haben sie die Zukunft verkörpert. Heute sind sie grau auf dem Kopf geworden und grau im Gesicht, und sie berichten wehmütig, dass sie die letzten ihrer Art wohl seien. Vor einiger Zeit ist ein Steuerungschip im Feuermelder kaputtgegangen. Zu kaufen gab es das Ding längst nicht mehr. Ein Halbleiter-Institut hat es dann nach alten Plänen nachgebaut.

So ist das überall. Auch die Bilder aus dem Kontrollraum in Fukushima zeigen Schalter, die beim Umlegen klacken, und Messinstrumente mit Zeigern. Computer haben sie da nicht. Es gab damals noch keine, und nachträglich – in einen VW Käfer lässt sich auch kein Airbag mehr einbauen, zu wenig Platz. Der Fortschritt ist weiter gewandert. Nur die Lemuren hängen an den alten Apparaten. Sie waren ihr ganzes Leben.

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