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Bei Angriffen auf Kirchen in Nigeria kamen über 40 Menschen ums Leben.

© Reuters

Gewalt in Nigeria und Irak: Religion ist nicht die Ursache des Blutvergießens

Brennende Kirchen in Nigeria und Anschläge im Irak: Es geht dabei nicht um Glaubensfragen, sondern um Herrschaftsansprüche. Die Kräfte, die im Irak wirken, sind älter als Besatzungszeit und Abzug der Amerikaner.

Jahr für Jahr hoffen Christen auf die Friedensbotschaft der Weihnachtszeit – und werden meist von irdischen Schlagzeilen widerlegt. Wenn die christliche Welt innehält, treten Krieg und Gewalt anderswo umso unbarmherziger hervor. 2011 brennen Kirchen in Nigeria und steigt die Zahl der Anschläge im Irak, weil sich der Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten nach dem Abzug der US-Truppen zuspitzt. In den Jahren zuvor eskalierten Konflikte in Indien, Kaschmir, Pakistan und dem Jemen; Kirchen brannten in Indonesien und dem Sudan. In den Nachrichten hört es sich oft so an, als seien die Religionen die Ursache des Blutvergießens – das verschärft das Unverständnis in einer säkularen Gesellschaft wie der deutschen: Man bringt sich doch wegen Glaubensfragen nicht um! Das ist doch atavistisch!

In Wahrheit brennen die Kirchen in Nigeria nicht, weil sich die Menschen dort um theologische Fragen streiten. Hintergrund ist ein langer Machtkampf zwischen dem muslimischen Norden und dem christlichen Süden um Einfluss und Ressourcen. Ebenso wenig geht es im Irak um die sunnitische oder schiitische Auslegung des Koran, sondern um Herrschaftsansprüche – und um die bis heute fortwirkenden Rachewünsche wegen der jahrzehntelangen Unterdrückung der schiitischen Mehrheit durch die sunnitische Minderheit. Die Triebkräfte der Gewalt sind meist ein komplizierter Mix aus dem Streben nach sozialer Emanzipation, ökonomischer Teilhabe und Rache für erlittenes Unrecht. Nigeria und Irak liegen ebenso wie die anderen Konfliktregionen an den Grenzlinien, wo verschiedene Religionsgruppen über Jahrhunderte Krieg führten. In solchen Gegenden hat die Konfession mehr Bedeutung für die Identität der eigenen Gruppe und die Abgrenzung von „den anderen“.

Diktaturen können solche Antagonismen mit ihren Machtmitteln und einer einigenden Ideologie für eine gewisse Zeit unterdrücken. Sie können sie aber nicht auf Dauer überwinden. Das haben die Beispiele der Sowjetunion und Jugoslawiens unter Tito gezeigt. Auch dort waren die religiösen Konflikte – auf dem Balkan zwischen katholischen Kroaten, orthodoxen Serben und muslimischen Bosniaken, im Kaukasus zwischen Orthodoxen und Muslimen – zugleich ethnische, soziale und ökonomische Rivalitäten. Als die alte Macht wankte, brachen sie neu auf.

Der Irak ist wie viele Staaten im Mittleren Osten ein künstliches Gebilde. Die früheren Kolonialmächte haben die Grenzen willkürlich gezogen, ohne viel Rücksicht auf die Siedlungsgrenzen religiöser oder ethnischer Gruppen zu nehmen. Was den Gesellschaften an natürlichem Zusammenhalt fehlte, versuchten autoritäre Herrscher nach der Unabhängigkeit durch Nationalismus zu ersetzen – und notfalls mit Gewalt durchzusetzen.

Die Kräfte, die jetzt im Irak wirken, sind älter als Invasion, Besatzungszeit und Abzug der Amerikaner. Sie sind auch älter als Saddams Herrschaft. Sie können zum Bürgerkrieg und zum Zerfall des Landes führen. Es muss aber nicht so kommen, gerade weil die Iraker 2004 bis 2007 erlebt haben, wie nahe sie an der Katastrophe waren. Damals haben die Amerikaner sie – nach vielen Anfangsfehlern – durch eine Truppenverstärkung davor bewahrt. Iraks Spitzenpolitiker müssen die zerstörerischen Kräfte nun selbst zähmen. Sie haben den Abzug der US- Truppen gewollt, die bis vor Kurzem eine zerbrechliche Stabilisierung bewacht hatten. Diese werden nicht zurückkehren. Das Schicksal des Irak hängt nun am Einigungswillen von Schiiten und Sunniten.

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