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Meinung: Gnade ohne Reue

Es wäre ein Zeichen von Stärke, wenn der Rechtsstaat jetzt das Kapitel RAF beendete – und Christian Klar begnadigte

Am 12. Dezember 2001, abends um 21.35 Uhr, strahlt der ORB ein Dokument der Zeitgeschichte aus. Es ist ein von eigentümlicher Kälte geprägter, so noch nie da gewesener Einblick in eine andere Welt; Beobachter werden später von einer „eisgrauen Gespensterstunde“ sprechen.

Zum ersten Mal im deutschen Fernsehen wird ein Interview mit einem ehemaligen, noch in Haft befindlichen Terroristen der Rote Armee Fraktion (RAF) ausgestrahlt. Der inzwischen verstorbene Journalist Günter Gaus hatte gut drei Wochen zuvor Christian Klar getroffen. Das Gespräch ist ungeschnitten. Die Nahaufnahmen von Klar zeigen einen zutiefst verstörten Menschen, nicht nur rhetorisch unfähig, sich in der Wertewelt des Interviewers zurechtzufinden.

Klar sitzt zu diesem Zeitpunkt seit 19 Jahren hinter Gittern. Er ist einer der führenden Köpfe der so genannten zweiten RAF-Generation, beteiligt an den Morden an Generalbundesanwalt Siegfried Buback, Dresdner-Bank-Chef Jürgen Ponto, Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer sowie dessen Personenschützern. Nie zuvor und nie mehr danach ist die Bundesrepublik in ihren Grundfesten derart erschüttert worden wie im Terrorjahr 1977, das seinen finsteren Höhepunkt im „Deutschen Herbst“ findet. Das Oberlandesgericht Stuttgart verurteilt Klar gemeinsam mit der RAF-Terroristin Brigitte Mohnhaupt zu fünfmal lebenslanger Haft plus 15 Jahren. Es sind die härtesten Strafen, die je gegen RAF-Mitglieder ausgesprochen wurden. Wegen der „besonderen Schwere der Schuld“ setzen die Richter bei Mohnhaupt eine Mindestverbüßungsdauer von 24 Jahren fest, bei Klar sind es 26 Jahre.

Günter Gaus fragt im Herbst 2001, 24 Jahre nach den Taten, 19 Jahre nach der Festnahme Klars: „Schuldbewusstsein und Reuegefühle – sind das Vorgänge im Kopf, im Gemüt, von denen Sie sagen: Es geht euch nichts an?“ Christian Klar antwortet: „Im politischen Raum, vor dem Hintergrund unseres Kampfes sind das keine Begriffe“. Gaus fragt nach: „Und wenn ich meine Frage ins Persönliche wende?“ Klar antwortet: „Ich überlasse der anderen Seite ihre Gefühle und respektiere die Gefühle. Aber ich mache sie mir nicht zu Eigen. Vor der Trauer müsste sich viel ändern“.

Knapp zwei Jahre später, 2003, wendet Christian Klar sich an die andere Seite. Der ehemalige RAF-Terrorist reicht ein Gnadengesuch bei Bundespräsident Johannes Rau ein – und er hat einen prominenten Fürsprecher: Günter Gaus.

Es ist kein Ruhmesblatt für das rechtsstaatliche Räderwerk der Bundesrepublik Deutschland, dass Christian Klars Gesuch immer noch unbeantwortet im Bundespräsidialamt liegt und es gibt Indizien dafür, dass Bundespräsident Horst Köhler dies genauso sieht. Köhler fühlt sich in der Pflicht. Er will sich dieser Pflicht nicht durch Nichterledigung entziehen. Es ist eine schwere Entscheidung – und dass Köhler sie ausgerechnet in jenem Jahr wird treffen müssen, in dem sich der „Deutsche Herbst“ zum 30sten Mal jährt, in dem die Bilder von damals noch einmal zurückkehren werden, der um sein Leben flehende Schleyer, die mit einem Tuch am Tatort abgedeckte Leiche Bubacks, das alles macht die Sache zum Politikum. Es ist, als ob die Wunden von damals noch einmal aufgerissen würden. Sollte Horst Köhler sich für eine Begnadigung Christian Klars entscheiden, dann stellte sich das Staatsoberhaupt damit gegen eine gefühlte Dreiviertelmehrheit im Volk. In vielen Internetforen dominiert ein unversöhnlicher, man kann sagen: gnadenloser Ton. Auch der Boulevard hat das Thema entdeckt. Der Hass, den die RAF vor 30 Jahren säte, schlägt auf sie selbst zurück, immer noch, mit fast unverminderter Wucht.

Das Gnadenrecht des Bundespräsidenten ist die vornehmste Aufgabe, die dem Staatsoberhaupt verliehen wurde. Der Präsident entscheidet autonom, kein Parlament kann ihn stoppen. Doch es ist keine Entscheidung, die gleichsam im Labor gefällt wird. Die öffentliche Diskussion um die Begnadigung Christian Klars hat an Fahrt aufgenommen und sie entzündet sich besonders heftig an eben jener Frage, die auch Günter Gaus interessierte – ob es für den Häftling Gnade geben kann, ohne dass er zuvor Reue gezeigt hätte. Kann Köhler sich dem entziehen?

Ein Reuebekenntnis Christian Klars aber – das ist viel, womöglich zu viel verlangt von jemandem, der Gefühle, wie er es nennt, „der anderen Seite“ überlässt, der überdies keinen Sinn darin sieht, sich in seiner derzeitigen Situation öffentlich zu äußern. Ein Reuebekenntnis Christian Klars – es ist, überspitzt gesagt, die Forderung an einen Hardliner, seinen weichen Kern zu präsentieren. Eine hohe Hürde ist da aufgestellt worden für jemanden, der ganz offensichtlich unkundig ist in dieser Disziplin wie kaum ein anderer. Und wenig Gedanken hat man sich bislang darum gemacht, wie Reue eigentlich messbar ist, jenseits von puren Lippenbekenntnissen.

Franz Schwinghammer, der Regensburger Anwalt von Brigitte Mohnhaupt, hält ein Reuebekenntnis nach all den Jahren der Haft sogar für eine „arge Zumutung“ - wohlgemerkt: Schwinghammer meint damit eine Zumutung für die Angehörigen. In der Tat: Von schwer messbarer, womöglich geheuchelter Reue sollte der Bundespräsident seine Gnadenentscheidung nicht abhängig machen.

Von was aber dann? Es wird argumentiert, der Respekt vor den Opfern, die Rücksichtnahme auf die Gefühle der Angehörigen bedingten im Fall Klar eine unversöhnliche Haltung per se. Doch der Respekt vor den Opfern ist bereits bei der Feststellung der „besonderen Schwere der Schuld“ sowie bei der Bemessung des Strafmaßes berücksichtigt worden. Wessen Gerechtigkeitsempfinden angesichts von nunmehr fast zweieinhalb Jahrzehnten Haft von Christian Klar wegen vorgeblicher staatlicher Milde in Wallung gerät, der muss sich überprüfen, ob es ihm tatsächlich um Recht oder doch eher um Rache geht. Wer 24 Jahre Haft für nicht genug hält, der wird auch mit 26 Jahren nicht zufrieden sein. Wer mit 26 Jahren nicht zufrieden ist, der wird irgendwann bei der Forderung „Wegsperren, für immer!“ landen. Das aber läuft jedem Rechtsstaatsgedanken zuwider.

Ein Gnadenakt wäre keine Konterkarierung des Urteils, er erginge nicht „vor Recht“, er würde vielmehr das Urteil ergänzen. Die Haftlänge Christian Klars hat längst jene Dimension erreicht, in der von einer Verhöhnung der Opfer nicht mehr gesprochen werden kann. Das Bundesverfassungsgericht hat zudem festgestellt, dass für jeden Verurteilten, auch bei besonders schwerer Schuld, eine Chance bleiben muss, seine Freiheit wieder zu erlangen. Der Theologe und SPD-Politiker Richard Schröder hat zum nicht immer einfach zu findenden Rechtsstaatsempfinden das Wesentliche festgestellt: „Die Erfindung von unabhängigen Richtern beruht aber eben auf der Erkenntnis, dass die Wiederherstellung der Gerechtigkeit bei Opfern nicht immer in den besten Händen ist“.

In einem in jeder Hinsicht bemerkenswerten Beitrag hat sich in dieser Woche in der „Süddeutschen Zeitung“ nun Michael Buback zu Wort gemeldet, der Sohn des 1977 ermordeten Generalbundesanwalts. Buback beschreibt darin, wie fern und fremd ihm die Mörder seines Vaters geblieben sind und wie sehr ihm bei der Bewältigung der schlimmen Ereignisse der Umstand geholfen hat, „dass mein Vater nicht als Privatperson getötet wurde – die er für uns ausschließlich war –, sondern als Repräsentant der Justiz in der Bundesrepublik“. Michael Buback schreibt: „Es ist für mein Befinden nahezu unerheblich, ob Christian Klar … bis zum Ablauf der Mindesthaftdauer in etwa zwei Jahren in Haft bleibt, oder ob er durch einen Gnadenerweis des Bundespräsidenten früher in Freiheit gelangt.“

Buback stellt keine Bedingungen, er hat aber Fragen. Er will wissen, wie der Tathergang war, wer die tödlichen Schüsse auf seinen Vater abgegeben hat. Klar könnte Klarheit schaffen. „Es verwundert mich, dass ein Täter ohne Bekenntnis zu seiner Tat und ohne Reue eine Begnadigung erwartet und dass er nicht zur Klärung des Ablaufs einer Tat beiträgt, für die er bereits eine seit etwa 24 Jahren andauernde Haft verbüßt hat.“ Für Buback wäre die pure Aufklärung der Tat ein Hinweis darauf, dass sich Klar einer Gesellschaft angenähert hat, in der er bald wieder frei leben will, „nachdem er sich durch seine Taten sehr weit von ihr entfernt hat“.

Ist das auch zu viel verlangt? Falls ja, dann muss sich Christian Klar die Frage gefallen lassen, ob er nicht seinerseits zu viel verlangt, wenn er um Gnade bittet. Die RAF hat in den Jahren ihrer Existenz in einer Art kryptofaschistischer Herrenmenschenattitüde über Leben und Tod entschieden. Klar trägt Täterwissen in sich. Wenn der Bundespräsident sich nun vor seiner Gnadenentscheidung ein Bild macht, dann gehört es zu den Mindestanforderungen an das Verfahren, dabei auszuleuchten, warum der Ex-Terrorist 30 Jahre mit diesem Wissen hinter dem Berg gehalten hat.

Bei all dem wäre ein weniger hoher Ton der Aufregung angebracht, auch weil eines als sicher gelten kann: Weder eine Brigitte Mohnhaupt, die mutmaßlich im Frühjahr auf Bewährung freigelassen wird, noch ein eventuell begnadigter Christian Klar werden je wieder diesen Staat so herausfordern können, wie sie das in den 70er Jahren getan haben. Das Kapitel Rote Armee Fraktion neigt sich dem Ende zu, es hat mit der Auflösungserklärung der RAF 1998 ohnehin bereits erste zeitgeschichtliche Dimensionen erreicht: Von den „Kämpfern“ von einst sitzen neben Mohnhaupt und Klar nur noch Birgit Hogefeld und Eva Haule im Gefängnis. Hogefeld seit 13, Haule seit 20 Jahren. Mohnhaupt soll intern die Auflösung der RAF längst befürwortet haben. Sie sei, heißt es seitens von Gutachtern, in der Angelegenheit „keine Taktiererin“.

Und die, die draußen sind, darunter immerhin sechs von früheren Bundespräsidenten begnadigte ehemalige RAF-Angehörige, sind revolutionärer Umtriebe allesamt nicht auffällig geworden. Viele sind in den Endfünfzigern, manche kurz vor dem Rentenalter. Im Gegensatz zu den in diesem Zusammenhang gern zitierten „normalen Kriminellen“ gelten sie gar als Paradebeispiele für Resozialisierung. Gesellschaftliche Ängste, so sie vor der jeweiligen Freilassung existierten, erwiesen sich ein ums andere Mal als irrational. Der Staat war stärker – und das Mindeste, was man über die Gesellschaft sagen kann, ist: sie kann die ergrauten Ex-RAFler aushalten und sie tut dies nach jeweils ganz kurzer Zeit mit einem enormen Quantum an Indifferenz.

Die Prognose sei gewagt, dass dies auch in den Fällen von Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar der Fall sein wird. Zwar mag es der eine oder andere womöglich als Zumutung empfinden, sollten die Ex-Terroristen tatsächlich in den Talkshows zum „Deutschen Herbst“ auftauchen. Doch das ist letztlich eine Frage des guten Geschmacks, mehr nicht. Ein Kriterium für eine längere Haft kann das aber im Ernst nicht sein.

Die RAF-Kämpfer von einst werden die Deutungshoheit über ihre perfiden Taten nicht mehr erlangen können. Sie hatten sie nie. Der Rechtsstaat hat gesiegt. Welch Zeichen der Stärke wäre es, wenn dieser Rechtsstaat nun vorzeitig das Kapitel RAF zuklappte.

Und welch kraftstrotzende Pointe wäre es, wenn der vorgeblich unmenschliche Staat, den Christian Klar und seine Kumpanen vor 30 Jahren aus den Angeln heben wollten, dabei genau an diesem Christian Klar seine Generosität demonstrieren würde. Zeit dafür wäre es.

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