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Guido Westerwelle: Das Opfer

Guido Westerwelle wird geschlachtet. Fair ist das nicht.

Schwächere muss man schützen, und was für Hartz-IV-Familien gilt, sollte im Einzelfall auch für Leute wie Guido Westerwelle gelten. In diesen Stunden wird er zur Schlachtbank geführt für seine Thesen zur Mittelschicht, Sozialleistungen und weniger Steuern. Der Unmut über den missratenen Koalitionsstart sucht sich ein Opfer und findet endgültig Westerwelle, weniger ein veritabler schwarz-gelber Sündenbock, mehr ein leicht verirrtes Lamm.

Denn so haben wir Guido Westerwelle kennen gelernt in seinem neuen Amt: Die Kurve zum Staatsmann, die Joschka Fischer schaffte, will ihm nicht gelingen, nicht mal die Adaption der Politik-ist-Arbeit-Aura seines Vorgängers Steinmeier. Westerwelle versucht irgendwas dazwischen, doch es wirkt alles angelernt und aufgesetzt, er wird das nicht los. Und jetzt, in der Krise, wird er dünnhäutig, haut um sich und macht den Kardinalfehler des Außenministers, sich in Inneres einzumischen. Politische Chuzpe und rhetorisches Geschick, die seine Bühnenpersönlichkeit zusammenhalten, verfliegen. Er sagt, mehr oder weniger, dass alle doof sind nur er nicht. So redet einer, der sich sozial isoliert. Aus der Kriminologie weiß man: Ein typisches Opfer – oder, schlimmer noch, ein Amokläufer.

Ist das fair? Zieht man einmal den Quatsch mit Sozialismus und spätrömischer Dekadenz ab und fixiert sich nicht auf das Steuersenkungsthema, so empört wohl die meisten, dass Westerwelle offenkundig wenig vom Grundrecht gegen Armut hält, wie es die Karlsruher Bundesverfassungsrichter gerade erfunden haben, und noch weniger davon, die Hartz-IV-Sätze nach dem Urteil spürbar anzuheben. Vielleicht kommt er sich vor wie im falschen Film: Ist es nicht dieselbe Gesellschaft, die ihn jetzt auspfeift, die aber vor ein paar Jahren noch den Langzeitarbeitslosen Feuer unterm Hintern machen wollte und die Hartz-Reformen als nötigen Abschied aus der Sozialstaatsromantik feierte? Oh ja, sie ist es.

Wer der wankelmütigen Mehrheit den Spiegel und ein paar fiskalische Wahrheiten vorhalten möchte, der braucht das Steinbrück-Format mit seiner glaubhaft-grimmigen Entschlossenheit. Auch das kauft man Westerwelle nicht ab. Wenn Steinbrück nach dem Karlsruher Urteil gesagt hätte, mehr Geld gibt’s nicht, hätten alle verständnisvoll genickt. Bei Westerwelle gibt’s Aufruhr.

Ja, wenn er nur geschwiegen hätte. Hat er aber nicht. Dabei stimmt, was er sagt. Die geltenden Hartz-IV-Sätze sind verfassungswidrig, aber nicht, weil sie zu niedrig sind, sondern weil sie nicht sauber, also nach wirklichem Bedarf berechnet waren. Nimmt man dieses Urteil ernst, sollte man die Hartz-Sätze genauer staffeln. Für die ganz Kleinen, die derzeit 215 Euro bekommen, müsste es dann deutlich weniger werden. In den ersten Jahren kosten Kinder Zeit statt Geld. Wenn sie heranreifen, lernen, essen, wachsen und erleben, brauchen sie vermutlich in bestimmten Altersphasen mehr als ein Erwachsener. Wer möchte den Hartz-IV-Eltern diese Wahrheit verkünden: Dass ihre Kinder dem Sozialstaat mehr wert sind als sie? Und dann ist es wahr, dass ein 25-Jähriger Hartzler im Schnitt noch mehr lacht, lebt, liebt und draußen erlebt – Soziologen sprechen von „Teilhabe“ - als der 55-Jährige zuhause auf der Couch. Sollte er nicht dann mit dem Siegel der Statistik und bis auf den Cent berechnet „bedarfsgerecht“ mehr Geld kriegen?

Fragen über Fragen. Über alles darf jeder mitreden, gerne auch streitig und provokativ, ein Peter Sloterdijk und auch ein Guido Westerwelle. Die Post-Bankenkrisengesellschaft gibt sich derzeit sehr gemeinsinnorientiert, rücksichtsvoll, gleich, gerecht und lieb miteinander. Das kann sich schnell wieder ändern. Aber so lange es währt, sollte sie auch lieb zu den Liberalen sein.

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