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Meinung: Hände weg von der Verfassung!

Nur die Vertrauensfrage kann die Blockade der Bundespolitik aufbrechen Von Dieter Wiefelspütz

Der Weg zu vorgezogenen Bundestagswahlen ist nach dem Grundgesetz möglich, aber der Weg ist schmal. Nur wenn der Bundeskanzler im Parlament keine Mehrheit hat, kommen eine Auflösung des Bundestages und Neuwahlen in Betracht. Das Grundgesetz kennt kein Selbstauflösungsrecht des Bundestags.

Gemäß Artikel68 Abs.1Satz1 des Grundgesetzes kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers den Bundestag auflösen, nachdem ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages gefunden hat. Der Bundeskanzler kann die Vertrauensfrage isoliert oder verbunden mit einem Sachantrag, insbesondere einer Gesetzesvorlage, stellen. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts müssen die Kräfteverhältnisse im Bundestag die Handlungsfähigkeit des Bundeskanzlers so beeinträchtigen, dass er eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht sinnvoll zu verfolgen vermag. Entscheidend ist, ob aus der Sicht des Bundeskanzlers eine politische Lage der Instabilität gegeben ist.

Es gibt freilich eine entscheidende verfassungsrechtliche Grenze. Artikel 68 des Grundgesetzes darf nicht dazu missbraucht werden, dass ein Bundeskanzler und eine mit ihm zusammenarbeitende Parlamentsmehrheit den Bundestag zu einem beliebigen Zeitpunkt auflösen. Bislang haben sich das Bundesverfassungsgericht und das rechtswissenschaftliche Schrifttum bei der Beurteilung einer politischen Krisensituation ausschließlich auf das Verhältnis des Bundeskanzlers zum Bundestag konzentriert. Diese Betrachtungsweise ist zu eng und entspricht nicht der Verfassungswirklichkeit. Nach den von SPD und Grünen verlorenen Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen haben sich die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat aus der Sicht des Bundeskanzlers nachhaltig verschlechtert. Das Regierungsprogramm des Bundeskanzlers kann jederzeit „ausgebremst“ werden. Bei dieser Konstellation ist es nachvollziehbar, dass der Bundeskanzler zu dem Ergebnis gekommen ist, dass die von ihm für erforderlich gehaltene Politik nicht mehr realisiert werden kann. Diese Beurteilung wird von vielen Abgeordneten der rot-grünen Koalition geteilt. Das wiederum wird ihr Abstimmungsverhalten prägen, wenn am 1. Juli 2005 über die Vertrauensfrage abgestimmt wird. Abgeordnete der Koalition, die sich im Bundestag der Stimme enthalten oder mit Nein stimmen, drücken nicht dem Bundeskanzler ihr Misstrauen aus, sondern helfen, die Blockade in der Bundespolitik durch die Ermöglichung von Neuwahlen aufzuheben.

Bei der Beurteilung, ob eine politisch instabile Lage vorliegt und es sachgerecht ist, vorgezogene Bundestagswahlen anzustreben, hat der Bundeskanzler, aber auch das Parlament einen erheblichen Beurteilungsspielraum. Anhaltspunkte für einen Missbrauch dieser verantwortlichen Bewertung der politischen Situation durch den Bundeskanzler sind nicht gegeben. Nach allen vorliegenden Erkenntnissen ist der von Bundeskanzler Schröder angestrebte Weg evident verfassungskonform.

Nahe liegend ist es, die Vertrauensfrage isoliert zu stellen. Schließlich geht es nicht um ein einzelnes Vorhaben des Bundeskanzlers, sondern um seine gesamte Politik.

Die Parteien sind gut beraten, wenn sie in Angelegenheiten des Artikels 68 des Grundgesetzes weder dem Bundeskanzler noch dem Bundespräsidenten Ratschläge erteilen. Die Entscheidung über die Art und Weise der Vertrauensfrage ist ausschließlich Sache des Bundeskanzlers. Die Entscheidung über die Auflösung des Bundestages liegt allein beim Bundespräsidenten. Die denkbare verfassungsgerichtliche Überprüfung ihrer Entscheidungen unterliegt lediglich einer Missbrauchskontrolle.

Völlig abwegig ist freilich die Überlegung, den Weg zu vorgezogenen Neuwahlen durch eine rasche Verfassungsänderung zu erleichtern. Solch einem Ansinnen hat Bundeskanzler Schröder zu Recht energisch widersprochen. Man würde das Grundgesetz missbrauchen, wenn man es aus tagesaktuellen Bedürfnissen „glätten“ würde. Deshalb Hände weg von der Verfassung! Über das Grundgesetz und seine zeitgemäße Modernisierung ist im Rahmen der Föderalismusreform erst nach einer verfassungsgemäßen Bundestagswahl zu reden und zu entscheiden.

Der Autor ist Richter a. D. und innenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion.

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