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Meinung: Halali für die Umwelt

Der Wald kränkelt weiter – Ursache unbekannt

Alexander S. Kekulé Anfang der 80er Jahre schien alles so einfach: Der Wald stirbt, weil die Luft voller Schwefeldioxid ist. Jeder Schüler konnte in der Biostunde sehen, wie das ätzende Gas grüne Blätter bleicht und welken lässt. Also wurden der Industrie strenge Auflagen gemacht, Autos mit Katalysatoren versehen und der saure Waldboden mit Kalk neutralisiert. Trotz alledem, so die damalige Prognose, würden innerhalb von fünf Jahren große Teile des deutschen Waldes wegsterben.

Die drastischen Maßnahmen reduzierten das Schwefeldioxid um 85 Prozent, die ebenfalls am sauren Regen beteiligten Stickoxide um 40 Prozent. Das vorhergesagte Waldsterben blieb aus, seit den 80er Jahren wuchs der deutsche Baumbestand sogar um rund 20 Prozent – Ende gut, alles gut?

Von wegen. Presseberichten zufolge wird der noch unveröffentlichte Waldzustandsbericht 2004 verkünden, dass die grünen Lungen noch nie so krank waren wie heute. Rund ein Drittel aller Bäume soll demnach stark geschädigt sein, also mehr als 25 Prozent der Blätter oder Nadeln im Kronenbereich verloren haben. Vor drei Jahren zeigte noch knapp ein Viertel des Bestandes diese höchste Schädigungsstufe. Am schwersten sind diesmal die Buchen betroffen, die Eichen folgen auf Platz zwei. Insgesamt ist die Verschlechterung im Vergleich zum Vorjahr die schlimmste seit Beginn der Aufzeichnungen.

Die unangenehmste Erkenntnis wird jedoch voraussichtlich nicht im Bericht stehen: Niemand weiß wirklich, wie das grüne Siechen aufzuhalten ist. Die Reduktion der früher beschuldigten sauren Abgase hat nämlich zu keiner erkennbaren Erholung des Baumbestandes geführt. Im Gegenteil nimmt man heute an, dass die Stickstoffeinträge durch Luftverschmutzung und die Überdüngung des Bodens infolge von Massentierhaltung die erfreuliche Zunahme der Wälder seit den 80er Jahren sogar gefördert haben. Auch baumschädigende Insekten wie der berüchtigte Borkenkäfer können das in weiten Teilen Europas beobachtete Kränkeln der Flora nicht erklären. So wie es aussieht, ist der seit Jahren immer wieder angekündigte, massenhafte Befall geschwächter Bäume auch dieses Jahr wieder ausgeblieben.

Die derzeit favorisierte These der Wissenschaftler lautet, dass vor allem Klimaschwankungen für den schlechten Zustand der Wälder verantwortlich sind. So ließ der heiße und trockene Jahrhundertsommer des vergangenen Jahres den Saftstrom in den Kapillaren abreißen, so dass sich nach dem Laubfall vor allem im Wipfelbereich weniger Knospen bildeten. Ob dies letztendlich zum Baumsterben führt, ist ungewiss – da die Baumkronen erst seit zwei Jahrzehnten systematisch beobachtet werden, lassen sich frühere Hitzeperioden nicht mit dem Krankenstand des Waldes korrelieren.

Unterdessen hat das zuständige Landwirtschaftsministerium bereits den nächsten Schuldigen ausgespäht: Nach dem sauren Regen und der Massentierhaltung sollen nun Rothirsche, Rehe und Wildschweine ins Visier genommen werden. Wegen ihrer Vorliebe für junges Holz gelten sie als hartnäckige Verhinderer der Aufforstung. Dem Vernehmen nach will Ministerin Künast deshalb die Abschussquoten auf Hoch- und Niederwild deutlich erhöhen. Halali im Namen des Umweltschutzes? – „Wer heilt, hat Recht“, heißt ein alter Leitspruch der Medizin.

Der Autor ist Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie in Halle.Foto: J. Peyer

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