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Tagesspiegel-Kolumnist Helmut Schümann.

© Karikatur: Tagesspiegel

Handschrift: Eine aussterbende Spezies

Gibt es eigentlich noch eine andere Qualität außer der Individualität? Der deutsche Philologenverband beklagt die Verschluderung der Handschrift. Unser Kolumnist Helmut Schümann stimmt zu.

In diesen Zeiten, in denen mehr oder weniger alle Menschen die gleiche iPhone-Technik nutzen, damit mehr oder weniger die gleichen Dinge tun, nämlich in U-Bahnen, auf Straßen und in Gasthöfen anonym und nur indirekt mit Menschen kommunizieren, die dasselbe tun – erst kürzlich wieder in einer Berliner Kneipe, da saßen zwei junge Paare zusammen, zwei junge Frauen, zwei junge Männer, die Mädels daddelten auf ihren iPhones herum, die Jungs hatten sich und den Mädels nichts zu sagen – in diesen Zeiten, in denen nahezu alle den gleichen Modetrends frönen und aussehen wollen, wie alle anderen aussehen, in diesen Zeiten, in denen der vorgegebene Mainstream und der Massengeschmack Vorbild und Ziel allen Strebens zu sein scheint – uff, das ist jetzt ein sehr langer Satz und schwer moralinsauer ist er auch, in diesen Zeiten also, in denen viele Menschen freiwillig und ohne Not einer Kollektivierung und Vereinheitlichung hinterherrennen, ja, muss man nicht sagen, dass sie in diesen Punkten quasi einer Nordkoreanisierung das Wort reden?, in diesen Zeiten also kann man wohl mal an Sören Kierkegaard erinnern.

Der dänische Philosoph und Essayist des 19. Jahrhunderts, auch sonst nicht auf den Mund gefallen, provozierte einst mit einem Satz, der ein Dementi der Jetztzeit ist: „Es gibt eigentlich nur eine Qualität, das ist die Individualität.“

Der deutsche Philologenverband hat gerade, wahrscheinlich unbemerkt, an ebendiesen Kierkegaard erinnert. Er, der Verband, hat nämlich beklagt, dass die persönliche Handschrift, also die individuelle Handschrift auch in Deutschland vom Aussterben bedroht ist. Den Anfang hat Finnland gemacht, was zwar geografisch nicht weit von Kierkegaards Dänemark entfernt ist und als ewiger Pisa-Führer in allen pädagogischen Fragen als Nonplusultra gilt, aber des Dänen Erkenntnis umfassend negiert. Es gibt keine zwei identischen Handschriften auf dieser Welt, jede einzelne Handschrift ist höchst individuell und hat somit, selbst in ihrer sauklauigsten Ausführung, ihre ureigene Qualität. Erst also Finnland, nun Deutschland, im Jahre 2050, befürchtet der Philologenverband, werde wohl kein Abiturient mehr seine eigene Handschrift, sondern nur Druckbuchstaben beherrschen. Wer aber nun poetische Motive hinter der Sorge vermutet, der ist nicht nur drucktechnisch angeschmiert. Sehr prosaisch fürchtet der Verband, dass die großen Konzerne bei Bewerbungen einen handgeschriebenen Lebenslauf erwarten. Ach Sören.

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