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Harald Martenstein: Wulff und die Gesellschaft der Anständigen

Die frühere First Lady Bettina Wulff wehrt sich juristisch gegen das Gerücht, sie sei vor ihrer Ehe einer Tätigkeit im Rotlichtmilieu nachgegangen. Ihr Ärger ist verständlich. Den Rest dieser sogenannten Affäre aber kann unser Kolumnist nicht verstehen.

Gesetzt den theoretischen Fall, irgendwer aus den Kreisen der Spitzenpolitik hätte früher tatsächlich als Callgirl oder Callboy gearbeitet – was genau wäre daran eigentlich so verwerflich? Der Beruf ist bei uns legal. Unsere Politiker, und erst recht ihre Lebenspartner, müssen keine in jeder Hinsicht vorbildlichen Menschen sein. Sie sollen ihre politische Arbeit gut machen und sich in ihrem Amt nichts zuschulden kommen lassen, das reicht völlig. Christian Wulff musste als Präsident zurücktreten, weil er in dem Verdacht steht, als Politiker bestechlich zu sein, und weil er das Vertrauen großer Teile der Bevölkerung verloren hatte. Das ist etwas anderes.

Die Prostituierte und ihr Geliebter aus besseren Kreisen treten in Film, Literatur und Oper meist als sympathische Figuren auf, das geht vom „Mädchen Irma la Douce“ über „La Traviata“ bis zu „Pretty Woman“, zu Sartre und Brecht. Frauen, die sich prostituieren, haben dafür die verschiedensten Gründe, es kann Geldmangel sein, es kann Zwang sein oder die Lust, viel zu verdienen, manchen wird der Job auch Spaß machen. Ich sehe keinen Grund dafür, diese Frauen pauschal herabzusetzen. Und wenn sie sich aus dem Milieu befreien, gibt es erst recht keinen Grund dazu. In unseren Talkshows sitzen ja auch hin und wieder aktive oder ehemalige Pornostars, manche sind ins seriöse Schauspielfach gewechselt, das geht alles, weil unsere Gesellschaft zum Glück einigermaßen durchlässig ist und weil wir zum Glück den meisten Menschen erlauben, ihr Leben so zu führen, wie sie es wollen.

Das Gerücht wurde angeblich aus CDU-Kreisen gestreut, so behauptet die „Süddeutsche“. Ausgerechnet aus einer christlichen Partei? Jesus hat zu den Moralwächtern seiner Zeit, den Hohepriestern, gesagt: „Die Huren kommen eher ins Reich Gottes als ihr.“ Und es gibt vermutlich mehr als einen Politiker, auch in der CDU, der heimlich ins Bordell geht. Soll er, ich will mich da nicht zum Richter aufschwingen. Aber es ist, seit 2000 Jahren, immer die Hure, die aus der Gesellschaft der Wohlanständigen ausgestoßen wird, niemals der Freier.

Deshalb waren die Bettina-Wulff-Gerüchte so klebrig. Womöglich gehen die gleichen Leute, die sich über solche Gerüchte ereifern, am Abend ins Theater, sehen „Ein Käfig voller Narren“ und hören dort den Refrain: „Ich bin, was ich bin, und was ich bin, ist ungewöhnlich.“ In dem Musical geht es um Männer in Frauenkleidern. Aber der Refrain lässt sich universell anwenden.

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