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Hauptsache Kultur: Berlin - eine reiche Stadt

Was das wiedervereinigte Berlin von anderen Groß- und Hauptstädten unterscheidet, ist die kulturelle Grundsicherung, dieser relative Reichtum. In keinem anderen Bereich mischten sich Ost und West so schnell wie in der Kultur.

Mit seinem einzigartigen Gespür für Zeitgeist und Krawall drehte Christoph Schlingensief vor zwanzig Jahren einen wild-lustigen Horrorfilm zur Wiedervereinigung: „Das deutsche Kettensägenmassaker“. Am morgigen Sonntag eröffnet die Staatsoper im Schillertheater ihr neues, vorübergehendes Domizil mit der Oper „Metanoia“ von Jens Joneleit. Die Inszenierung basiert auf Ideen des im August gestorbenen Regiekünstlers. Schlingensief fehlt.

Und ist doch unter uns. Denn die verblüffende Entwicklung der hauptstädtischen Kultur, ihr Wesen und ihr unwahrscheinlicher Erfolg lassen sich an diesen beiden, zwei Jahrzehnte auseinanderliegenden Werken, dem Underground-Spektakel und dem Musiktheater aus dem Geiste Nietzsches, wunderbar nachvollziehen. Der Weg führt von der einst rebellischen Volksbühne in den Orchestergraben. Von Frank Castorf zu Daniel Barenboim. Vom Rosa-Luxemburg-Platz in die Bismarckstraße; diese Namen allein schon umspannen Welten. Von Mitte nach Charlottenburg. Vom Zentrum an den Rand der Innenstadt, der nun wieder mehr in den Mittelpunkt rückt.

Lange Zeit fühlte sich der Westteil Berlins als kultureller Verlierer der Einheit. Die Schließung des Schillertheaters im Jahre 1993 wurde als Fanal empfunden. Wenig später machte auch noch die traditionsreiche Freie Volksbühne dicht – und begann als Haus der Berliner Festspiele ein neues Leben. Das Siechtum des Schillertheaters dauerte länger. Jetzt aber ziehen auch hier wieder Sänger, Musiker, Schauspieler und die Zuschauer ein. Drei Jahre will die Staatsoper in der Bismarckstraße spielen, danach kommt die Komische Oper nach Charlottenburg; auch ihr Stammhaus muss renoviert werden. Die Wiedereröffnung des Schillertheaters am 3. Oktober hat ebenso symbolischen wie praktischen Wert.

Bewegung und Bewegungsfreiheit bestimmen die Kultur dieser Stadt. Dieses Gefühl geht nicht nur von ständig wechselnden, neuen Party- und Konzert-Locations aus, sondern auch von festen Häusern wie dem Hebbel am Ufer und dem Radialsystem an der Spree, wo die Choreografin Sasha Waltz mit ihrer Compagnie zu Hause ist.

Stillstand gilt nicht. Auch die Museumslandschaft bewegt sich. Dass die notwendigen tektonischen Verschiebungen und Verlagerungen hier schwieriger, langwieriger sind, liegt in der Natur der Sache. Was in Berlin lange dauert, das wird meist nichts. Wie es aussieht, kommen wir um das Schloss nicht herum. Aber es besteht auch Hoffnung, dass die Kultur diesem Popanz Sinn und Verstand leiht: mit dem Humboldt-Forum. Das Kulturelle überwölbt so manches, das in der deutschen Hauptstadt weniger gut läuft.

Es ist phänomenal, wie die Aura Berlins international ausstrahlt. Jedes zweite Wochenende ist irgendein Gallery Weekend, der Kunstherbst mit dem Art Forum steht vor der Tür, Festivals hier, Festivals dort – als herrschte in Berlin ewiger Kulturfrühling. Und wenn der Winter hart, eklig und finster wird, beginnt die Berlinale. Das Image der Kulturmetropole erweist sich als erstaunlich belastbar und lukrativ. Touristen kommen in Massen.

Was das wiedervereinigte Berlin von anderen Groß- und Hauptstädten unterscheidet, ist dieser relative Reichtum, die kulturelle Grundsicherung. Häuser und Finanzen für die Kultur stehen nicht zur Debatte. Der Senat hat aus dem Schillertheater-Debakel gelernt. Damals traf es mit der Schließung in West-Berlin Staatsbühnen, die auch künstlerisch am Ende waren. Ein wichtiger Gesichtspunkt, wenn man zurückblickt auf die Jahre seit 1989/90: Es war auch eine ästhetische Wende zu erleben.

In keinem anderen Bereich mischten sich Ost und West so schnell wie in der Kultur. An keinem anderen Ort sind Off- Szene und Hochkultur so unwiderstehlich zusammengewachsen. Das sieht nicht immer schön aus, das macht Arbeit. Über etliche Kunsthervorbringungen und Kreativversuche kann man sich die Haare ausrupfen; freilich auf hohem Niveau. Auch das hat Tradition, seit den Tagen Max Reinhardts und Alfred Kerrs: die kritische Grundeinstellung. Alle schauen fasziniert auf diese Stadt, die selbst ihr Bild im Spiegel sucht.

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