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Meinung: Heimweh

TOTENSONNTAG IN BERLIN

Zwar gibt es in Deutschland zwei Feiertage, die dem Gedenken an die Toten gewidmet sind, aber eigentlich finden sie nicht statt. Weder am 1. November, dem katholischen Allerheiligen, noch am heutigen Totensonntag ist es üblich, auf dem Friedhof Kerzen anzuzünden und einen Moment innezuhalten. Die Gräber sind gepflegt, aber einsam. Wie anders in meiner Heimat! Ganz Polen macht sich Allerheiligen auf die Beine. Man fährt Hunderte von Kilometern, um seine Verstorbenen auf dem Friedhof zu besuchen und lebende Verwandte zu treffen. Es ist anstrengend, eng, chaotisch auf den Straßen und Friedhofsvorplätzen, aber auf dem Friedhof verschwindet die Hektik auf wundersame Weise. Ruhe breitet sich aus. Der jährliche Gang auf den Friedhof mit hunderttausenden anderen, die Erinnerung und Besinnung im Kerzenlicht fehlen mir sehr im laizistischen Berlin. Hier wird mir ein Geburtstagsstrauß aus Chrysanthemen angeboten – es sind doch 1.NovemberBlumen! Mich stören Diskussionen, ob es erlaubt sein soll, sich die Urne ins Wohnzimmer zu stellen. Als Kaminsimsverzierung? Was schon möglich ist, erschüttert mich: Asche ins Weltall schicken und als Amulett am Hals tragen, bunte Designersärge oder die anonyme Bestattung. Irre ich mich, wenn ich Respekt vor dem Tod und Traditionsverbundenheit vermisse? Ich finde die so erfolgreichen „Körperwelten“ unsäglich und auch den weihnachtlichen Schmuck vor Advent unpassend. Sollte der Kommerz die Tradition ersetzen und Feiertag nur Freizeit bedeuten, würden unsere Wurzeln sehr flach. Das wäre traurig, trauriger als die grauen November-Totentage. Anna Rubinowicz-Gründler

Unsere Autorin ist Korrespondentin der polnischen Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ und lebt in Berlin.

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