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Otto von Bismarck

© dpa

Historisches Tondokument: Otto von Bismarck: Der Klang der Geschichte

Es ist der Klang einer Stimme aus der Geschichte: Einem alten Tondokument sei Dank können wir Otto von Bismarck sprechen hören. Wird damit der Tonträger zum Wertträger?

Was ist von Wert? Nein, diesmal ist nicht von einer ökonomischen Größe die Rede, sondern von einer immateriellen; wiewohl sich deren Wert materialisiert hat in einem Tonträger. Die Rede ist davon, dass wir Otto von Bismarck sprechen hören können. Ja, richtig gelesen! Bismarck spricht, Edison sei Dank, auf einem der ältesten Tondokumente deutscher Zunge. Und das ist insofern von Bedeutung, als es sich um eine Rarität handelt, um etwas, das uns – uns selbst betreffend – in unserer gegenwärtigen Welt abhanden zu kommen scheint. In dieser Welt, der modernen, ist es gang und gäbe, sich gewissermaßen zu entäußern, beinahe alles von sich öffentlich zu machen, sei es in Bild oder Ton.

So wie wir versuchen, der Welt alle Geheimnisse zu entlocken oder zu entreißen, so debattieren wir ja gerade auch, ob das eigene Leben nicht auch nur eine Zeitleiste – eine „Timeline“ – sein sollte, quasi katalogisiert und damit archiviert. Ob das Leben mit seinen subjektiven Windungen und Wendungen auf diese Weise zugleich auch objektiviert wird, ist eine Frage, die in diesem Zusammenhang selten gestellt wird. Aus psychologischer Sicht wäre das allerdings nötig, weil es zum Leben dazu gehört, vergessen und verdrängen zu dürfen; und aus nahezu philosophischer Sicht auch, weil nicht nur der Mensch, wie er geht und steht, der eigentliche Mensch ist, sondern auch, wie er sich selbst sieht und nach außen darstellt.

Wo nun immer mehr bekannt wird, selbsttätig bekannt gemacht, ist von Rarität keine Rede mehr. Dabei sind Raritäten doch gerade das, wonach der Mensch sucht, was man außerdem in der Menschheitsgeschichte als Wertträger immer zu mehren versuchte. Nun gibt es also wieder eine Rarität, und zwar aus der Zeit, in der Dokumente aller Art nicht frei verfügbar waren. Allein das klingt schon abenteuerlich, noch dazu aber ist es eine Rarität, eine Novität, die buchstäblich hinterm Bett gefunden wurde – was den Reiz, die Neugier auf das nicht Gekannte erhöht. Auch die Faszination dieser seltenen Form der Authentizität, die aus einer fernen Zeit in eine Gegenwart kommt, deren Zeugnisse übermächtig, weil alltäglich und allgegenwärtig sind.

Otto von Bismarck spricht! So wie bei Reden oder populärer Musik, die wir heute hören, der Reiz im authentischen Beleg für Ansichten oder Stimmungen einer Partei oder gesellschaftlichen Gruppe liegt, so kommt bei Bismarck – oder Moltke – noch mehr hinzu: Es ist der Klang einer Stimme aus der Geschichte. Wir kennen die großen, begleitenden Umstände, wir wissen im wesentlichen, was daraus geworden ist, nur nicht immer, wie es dazu kam. Jetzt lernen wir eine neue Facette kennen, gewissermaßen hören wir den beherrschenden Teil der Partitur. Wir hören ihren Ton. Der macht die Person, die nach Maßgabe der Geschichtsschreibung ausgedeutet zu sein schien, lebendig. Ein Klangbild beginnt, ein Bild zu vervollkommnen – oder den Wunsch zu begründen, sich neu oder noch einmal damit zu befassen. Bismarck, der Englisch spricht! Dem die Marseillaise einfällt, als er etwas auf dem Tonträger hinterlassen soll!

Solche Entdeckungen sind für die Gegenwart wohl eher nicht an der Tagesordnung. Da fügen sich Tondokumente, überhaupt Dokumente nicht zu einem kohärenten Bild, sondern bilden einen Wust, der durch die auch noch ständig wachsende, unstrukturierte Fülle gleichsam undurchdringlich wird und damit abwehrend wirkt. Auf diese Weise Kultur zu erschließen, wird auch deshalb schwieriger, weil die Zahl der an politischen und gesellschaftlichen Fragen Interessierten sinkt und sich, wenn, dann eher in Fangemeinden diversifiziert. Geschichtsschreibung wird nur vermeintlich einfacher, es kann sogar sein, dass der Wunsch, herauszufinden, was wen geleitet und die Gesellschaft geformt hat, von eben der Fülle erstickt zu werden droht. So ist es allein schon viel Wert, dass der Fund dazu zwingt, an diesem Tag nicht auf die Fülle zu achten, sondern auf diesen Tonträger als Wertträger für unsere Zivilisation.

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