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Hitlers Machtergreifung: Erinnerung braucht Anteilnahme

Die Bedeutung dieses Tages vor 75 Jahren ist unbestreitbar, die Erinnerung an ihn unabweisbar. Denn die Machtergreifung Hitlers war der Anfang der Katastrophe.

Es liegt auf der Hand, dass der 30. Januar nur das erste Datum in der Folge der Erinnerungsdaten ist, derer in diesem Jahr gedacht wird: Im nächsten Monat der Reichstagsbrand, dann, am 1. April der Judenboykott – und dabei ist dann noch gar nicht eingerechnet, dass mit „1968“ ein weiterer kapitaler Erinnerungsanlass auf uns zurollt. Und zwar mit einer solchen Fülle von Würdigungen, Analysen und Darstellungen, dass das eigentlich Erstaunliche das Ausmaß ist, in dem uns historische Daten nach so langer Zeit bewegen. Überdies – in einer erstaunlichen Perspektivenverschiebung – umso mehr, je ferner sie rücken.

Doch was absolvieren wir da, wir Zeitgenossen einer Gegenwart, die ansonsten von den meisten Traditionen und vergangenen Verhaltensmustern erfolgreich abgelegt hat? Nur eine versäumte Geschichtsstunde? Eine emotionale Strafrunde? Oder doch in erster Linie ein Geschichts- und Bilderangebot, ein mediales Event?

Verdikt der Verdrängung

Natürlich kann man auf die Frage nach dem Grund dieser Erinnerungsrallye antworten: weil es lange nicht so war. Tatsächlich stand der größere Teil der Nachkriegszeit unter dem Verdikt der Verdrängung. Was nicht ganz richtig ist, aber auch nicht ganz falsch – der Holocaust zum Beispiel trat erst spät als der Zivilisationsbruch in den Gesichtskreis einer breiteren Öffentlichkeit, der er war. Doch am Ende kommt man nicht daran vorbei, dass der Hauptgrund das Gewicht der Geschichte selbst ist: Der 30. Januar bleibt ein Schlüsseldatum, dessen Konsequenzen die Deutschen nie ganz entkommen werden. Und auch 1968 hat ja das Land so beschäftigt, dass jede neue Generation das Thema abermals durchdeklinieren muss.

Aber ganz erklären sich so die Menge der historischen Ausstellungen mit Massenbesuch nicht, nicht die Serien im Fernsehen und in den Printmedien, und auch nicht die Bestseller, die aus Hitlers willigen Helfern wie aus dem Bombenkrieg gegen das „Dritte Reich“ gemacht worden sind. Geschichtsvergessenheit und Geschichtsversessenheit heißt das Begriffspaar, das ein Verlag vor ein paar Jahren in einem Buchtitel zusammengespannt hat. Ist es das? Oder der Umstand, dass unsere eigene Verwurzelung in der Geschichte so dünn geworden ist?

Nationalstaaten verlieren an Bedeutung

Im Fall des „Dritten Reichs“, das der eigentliche Fokus von Geschichtsproduktion und -konsum ist, spricht manches dafür. Die Zeitzeugen treten ab, der Nationalstaat, die Bühne der großen Verirrung, verliert an Bedeutung. Da wird die Vergangenheit, werden Machtergreifung und Reichstagsbrand bis hin zum Untergang des Diktators zum faszinierenden Schauspiel, spannender, weil authentischer als jeder „Tatort“ und jeder schaurig-schönen Erregung wert. Die Vergangenheit als die Spielfläche, auf der die Gegenwart eine Geschichte erlebt, die umso reizvoller ist, als sie nicht mehr ihre eigene Vergangenheit ist.

Aber muss man sich dann wundern, wenn Geschichte so oft zum bloßen Event und das Erinnern zum selbstzufriedenen Ritual wird? Erinnerung ohne Anteilnahme gegenüber dem Verlorenen, Verfehlten, aber auch Gelungenem, das in der Vergangenheit steckt, ohne compassion, wie Willy Brandt gesagt hat, bleibt der Geschichte etwas schuldig, vielleicht das Wichtigste. Und dann bleiben auch wir – bei aller Erinnerungsarbeit – uns selbst etwas schuldig.

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