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Meinung: Höhenangst auf dem Mont Klamott

Pascale Hugues, Le Point

Rom hat seine sieben Hügel, Rio seinen Zuckerturm. San Francisco sieht aus wie eine riesige Achterbahn, in München kriechen die Alpen bis in die Stadt hinein. Und La Paz, die höchstgelegene Hauptstadt der Welt, übertrumpft mit satten 3400 Metern sämtliche Mitbewerber. Armes kleines Berlin! Jedes Jahr, wenn es große Flocken schneit, beginnt die gleiche unmögliche Mission: mit dem Schlitten im Schlepptau einen anständigen Hügel auftreiben. Kein leichtes Unterfangen, Wintersport zu treiben in einer Stadt, die flach ist wie ein Crêpe.

Denn was man sich in Berlin einen „Berg“ zu nennen traut, ist meist nichts als eine lächerliche Warze, eine absurde Beule, eine Narbe im Asphalt, die mit bloßem Auge kaum wahrzunehmen ist. Das Maßband in meinem Nähkästchen würde reichen, um die Gipfel der deutschen Hauptstadt zu vermessen! Nehmen Sie den Kreuzberg, die höchste natürliche Erhebung im Westen Berlins: gerade mal 66 Meter! Ein Witz, auf den die eitlen Kiezbewohner auch noch stolz sind. „Jedem sein Berg!“, predigte mir gestern eine Kreuzbergerin – als lebte sie zu Füßen des Mount Everest. Ich hatte ihr gerade meinen Plan anvertraut, auf der Suche nach einer Schlittenpiste unserem guten alten Volkspark untreu zu werden und den Nachmittag stattdessen auf den anspruchsvolleren Loipen des Viktoriaparks zu verbringen.

Berlin erfindet sich die Berge, die es nicht hat. Die Stadt verschleiert ihr monotones Relief, sie plustert ihre Plattheiten auf – genau wie die Berliner Backfische, die ihre BHs ausstopfen, um ihre bescheidenen Rundungen voller wirken zu lassen. „Berlin, der Schutthaufen bei Potsdam“, mokierte sich Brecht. Der Teufelsberg? Ein vulgärer Hochstapler: 115 Meter purer Betrug. Man muss sich nur ansehen, wie er sich hinterm Grunewald räkelt, als sei er ein grandioses Matterhorn. Der Mont Klamott? Eine Attrappe! Die auch noch die Unverschämtheit besitzt, sich als „Dach Berlins“ zu bezeichnen mit ihren beiden Zwerggipfeln von 78 und 48 Metern. Nichts als Müllhalden sind diese arroganten urbanen Zugspitzen, Millionen Kubikmeter von Abfall, die Ruinen einer Stadt aus der Vorkriegszeit. Die „Berge“ von Berlin? Potemkin’sche Dörfer, errichtet von Trümmerfrauen. Sie waren es, die mit ihren verhärmten Händen Krater und Schluchten formten, Kuhlen und Kuppen modellierten und mitten im märkischen Sand ein alpines Miniaturrelief erschufen.

„Und als wir oben standen, die Stadt lag fern und tief / Da hatten wir vom Halse den ganzen deutschen Mief / Ich legte meine Hände auf ihren warmen Bauch / Und sagte: ‚Süße Dicke, fühlst du den Frühling auch?‘“ Wolf Biermann hat das gesungen, als Liebeserklärung an den Mont Klamott. Es stimmt, die Berliner Höhen verströmen ein schweres Parfum der Freiheit. Der Wind bläst stark, die Stadt liegt fern dort unten im Tal, eingehüllt in einen grauen Schleier. In welcher Metropole der Welt kann man an Winternachmittagen mit dem Schlitten auf einer Stadt dahingleiten, die überwuchert ist von Bäumen und Gräsern? Auf urbanen Friedhöfen, auf ganzen Vierteln, die von Bomben in Stücke geschreddert wurden? In einem Jahrhundert wird dieses versunkene Atlantis Archäologen beglücken. Manchmal stolpert man noch über einen behauenen Sims oder einen halben Backstein, manchmal steigt unter dem Laub eine Kachel an die Oberfläche. Unter den Bergen Berlins verbirgt sich eine andere Welt. Eine, von der die alten Berliner mit Nostalgie sprechen.

Je höher sie steigen, desto hitziger streiten die Lokalpatrioten. Wer ist höher, der Kreuzberg oder der Volkspark? Und überhaupt, ist das wichtig, diese paar Meter über dem Meeresgrund? Ich bleibe unserem Kiez treu: Der Volkspark ist der Mont Blanc von Schöneberg. Unser Zauberberg. Zugegeben, nach ein paar Stunden ähnelt die Schlittenpiste einem Waschbrett: Die Schneebahnen sind glitschig wie eingeseiftes Holz, hier und dort stechen gefrorene Grasbüschel durchs Eis. Aber nichts ersetzt den beißenden Geschmack eines Cappuccino bei Toni neben dem Rias. Und nirgendwo sonst versammelt sich der gesamte Kiez, nirgendwo sonst sieht man diese besondere Art der Wangenröte, die von Kälte rührt und von Glühwein. Jedem sein Berg.

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