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Holocaust-Gedenktag: Aus Erinnern kommt Haltung

65 Jahre nach der Befreiung des Lagers in Auschwitz fragt es sich, ob aus ihm eine spezielle Politik herzuleiten ist. Ganz gewiss jedoch eine politische Haltung: nämlich die von Ernsthaftigkeit, Berechenbarkeit und Prinzipienfestigkeit.

Dass die Bundeskanzlerin am Auschwitz-Gedenktag an diesem Mittwoch die lang erwartete Regierungserklärung zur deutschen Haltung zu Afghanistan abgibt, mag manchen zu manchen Gedanken veranlassen. Dabei bedeutet es lediglich, dass der Parlamentsbetrieb auch vor diesem Tag nicht haltmacht. Das allerdings wiegt schwerer als jeder Hintergedanke, der an diesem Zusammenfallen von politischer Routine und Gedenken hätte mitdrehen können. Denn es wirft die Frage auf, wie sich denn das Erinnern an den singulären Zivilisationsbruch, für den der Name Auschwitz steht, zum Alltag von Politik und Gesellschaft überhaupt verhalten kann.

Was wäre diesem Gedenktag angemessen: Ein Tag vollständiger Stille? Als alle Lebensäußerungen erfassendes Monument der Erschütterung? Aber auch Israel begnügt sich mit einer landesweiten Schweigeminute. Tatsächlich liegt das Problem dieses Erinnerns darin, dass keine Veranstaltungsform denkbar wäre, die diesem Menschheitsverbrechen gerecht werden könnte. Auch die Reden, die zu diesem Tag gehalten worden sind, seitdem Bundespräsident Roman Herzog die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz im Jahre 1945 zum Gedenktag erhoben hat, haben ja nur deutlich gemacht, dass es sich um ein Ereignis handelt, dessen unvorstellbare Entsetzlichkeit alle Anstrengungen, sich ihm anzunähern, übersteigt.

Doch wäre es denn richtig, das Holocaust-Gedenken gleichsam der Normalität von Politik und Alltag zu entziehen? Wäre es, beispielsweise, besser, wenn über dem Holocaust-Mahnmal – sein Grundstein wurde vor zehn Jahren am Auschwitz-Gedenktag gelegt – die Ruhe einer sakralen Zone läge? Gut, etwas weniger lockeres Touristenleben an diesem Ort würde man sich schon wünschen, und dass vor zwei Jahren der Faschingsumzug in München ausgerechnet für diesen Tag anberaumt war, erfüllte vielleicht doch den Tatbestand einer mehr als ärgerlichen Gedankenklosigkeit. Aber ein Gedenken, das wirken will, das die Menschen erreichen soll, muss sich der Spannung stellen, die zwischen dem Ereignis und dem Alltag besteht.

Es besteht ja auch nicht die Gefahr, dass dieser Anlass dadurch seinen gewaltigen, bestürzenden Rang einbüßen könnte. Seitdem der Name Auschwitz in die Nachkriegsgeschichte eingedrungen ist, ist die Bedeutung dieses schwärzesten Kapitels der deutschen Geschichte gewachsen. Also spätestens seit den Auschwitz-Prozessen 1963, denn es brauchte etliche Zeit, bis das Unvergleichbare dieses Verbrechens wirklich realisiert wurde, nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt. Stieg der Holocaust nicht für den Golfkrieg auf zum Rechtfertigungsgrund des militärischen Einsatzes des Westens? Es kann kaum ausbleiben, dass der Redner des diesjährigen Gedenktages, der israelische Staatspräsident Schimon Peres, uns ins Gedächtnis rufen wird, wie sehr Teherans Politik gegen Israel mit ihrer atomaren Zuspitzung für den jüdischen Staat eine höchst aktuelle Gefahr darstellt.

Andererseits stellt sich die Frage, ob die Erinnerung an Auschwitz nicht längst hineingewachsen ist in die größere Dimension einer moralisch-historischen Verpflichtung aller Politik. Nicht ohne Beklemmung erinnert man sich daran, wie hierzulande Auschwitz herangezogen wurde, um die deutsche Teilung gegen die sich anbahnende Wende zur Vereinigung zu verteidigen oder zur Begründung des Eintritts der Bundesrepublik in den Kosovokrieg. Angesichts der Größe des Ereignisses, erscheint es eher peinlich, Auschwitz als Instrument einer negativen Sinnstiftung zu nutzen. 65 Jahre nach der Befreiung des Lagers, mithin nach dem Zur-Geschichte-Werden eines Verbrechens, das nicht vergeht, fragt es sich, ob aus ihm eine spezielle Politik herzuleiten ist. Ganz gewiss jedoch eine politische Haltung: nämlich die von Ernsthaftigkeit, Berechenbarkeit und Prinzipienfestigkeit. Vielleicht ist es die Einschwörung auf diese Tugenden, mit der die Deutschen der Bedeutung entsprechen, die dieser Gedenktag für sie hat.

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