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George W. Bush nahm ebenfalls an der "Ice Bucket Challenge" teil.

© Facebook George W. Bush (TSP)

Ice Bucket Challenge: Riesengaudi und Gruppendruck

Es zählt nur noch, was öffentlich passiert: Die „Ice Bucket Challenge“, mit der auf die Nervenkrankheit ALS aufmerksam gemacht werden soll, ist Ausdruck einer neuen Schamkultur.

Für einen guten Zweck übergießen sich Menschen mit Eiswasser. Einer nach dem anderen. Zuletzt der Westschweizer katholische Bischof Charles Morerod, der Schauspieler Jan Josef Liefers und das Maskottchen von Bayern München. Bei der von dem inzwischen verstorbenen 27-jährigen Amerikaner Corey Griffin erdachten Internetaktion geht es darum, auf die Krankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) aufmerksam zu machen und die Teilnehmer zum Spenden zu ermuntern. ALS führt in dramatischer Weise zu Nervenzerstörung und Muskellähmung. Die Aktion hat in kurzer Zeit nicht nur viele Millionen Dollar für einen guten Zweck eingesammelt, sondern ist zu einem Zeitgeistereignis geworden.

Die „Ice Bucket Challenge“ ist „eine Riesengaudi“, wie die an ALS erkrankte Yvonne Wendel in einem Interview sagt. Offenbar auch für die Beteiligten: So forderte „Bild“-Chef Kai Diekmann den ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff heraus, sich auch übergießen zu lassen. Freunde unter sich. Kulturell schwappt damit ein eher angelsächsisches Phänomen um die Welt: das individuelle Sponsoring für den guten Zweck, der öffentliche Druck, sich sozial zu engagieren. In Deutschland werden traditionell Steuern gezahlt.

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Gleichzeitig zeigt sich wieder einmal die globale Dynamik des Internets. Innerhalb kurzer Zeit hat sich die Aktion um die ganze Welt verbreitet. Und weil das Internet ein Inszernet ist, in dem sich jeder so darstellen kann, wie er möchte, liefert die „Ice Bucket Challenge“ eine Fundgrube von Selbstdarstellungen – die erstaunlich ähnlich sind. Die kleine Typologie besteht aus dem Einzelkämpfer (Christian Lindner, Anne Will), der den Eimer selbst über sich auskippt, dem Gruppenduscher (mehrere Basketballmannschaften), dem Stripper (der Fußballer Ronaldo, Verena Pooth) und dem Geduschten, der übergossen wird (George W. Bush, Apple-Chef Tim Cook, Oprah Winfrey).

Aber bis auf den Schauspieler Charlie Sheen, der einen Eimer ohne Wasser, aber mit Geldscheinen über sich ausleert, oder Bill Gates, der wie an einer Schnur zieht, um ein Fass über sich zu leeren, läuft die Challenge bei den meisten Teilnehmern sehr ähnlich ab. Anders als einst erhofft, differenziert das Internet nicht, es vereinheitlicht. In diesem Fall sogar das soziale Verhalten. Der Druck, bei der Spendenaktion teilzunehmen und dabei auch unvorteilhafte Bilder von sich ins Internet zu stellen, ist offenbar groß und global; der Wille, sich diesem Druck zu beugen, ebenso. Diesem Reiz, wahrgenommen zu werden, entzieht sich kaum jemand. Dass ein Kläger erst vor wenigen Wochen Google das Recht zu vergessen abgetrotzt hat, wirkt angesichts dieser bereitwilligen Verbreitung von Bildern, vorgestrig.

In dem Verfahren hatte sich ein spanischer Zahnarzt dagegen gewehrt, dass Google auf eine weit zurückliegende Privatinsolvenz verweist, obwohl sie im Kontext von heute ohne Bedeutung sei. Doch genau das passiert im Internet: Informationen werden entkontextualisiert. Heute werden die Filme von George Bush und Mats Hummels mit ihren Eiskübeln noch im Zusammenhang mit der Spendenaktion verstanden, was schon bald nur noch davon bleibt, sind Bilder ohne Kontext.

Richtig oder falsch gibt es nicht mehr

Die „Ice Bucket Challenge“ demonstriert, wie sehr das Internet eine Schamkultur vorantreibt, in der nur zählt, was man öffentlich tut. Der Schamkultur liegt die Angst vor öffentlicher Missbilligung zugrunde, im Gegensatz zur vor allem christlichen Schuldkultur, die auf das Gewissen setzt und einen internalisierten Wertekanon. Es ist eine Entwicklung, die der britischen Altphilologen E.R. Dodds für die Antike beschreibt, von der homerischen Schamkultur zu den Ursprüngen einer Schuldkultur im klassischen Athen. In typischen Schamkulturen wie Japan geht es in erster Linie nicht darum, richtig oder falsch zu handeln, sondern das zu tun, was in einem konkreten sozialen Netzwerk von einem erwartet wird.

An diese Welt, die von Homer, bringt uns die „Ice Bucket Challenge“ wieder einen Schritt näher, in der das richtige Verhalten stets vom Kontext abhängig war.

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Der amerikanische Präsident hat sich zwar nicht übergießen lassen, betonte aber, dass er gezahlt habe. Der sozialdemokratische Parteichef nennt sogar öffentlich die Summe, die er gespendet hat, auch wenn er sich dann von der Aktion distanziert: „Um ehrlich zu sein: Ich finde die Krankheit viel zu ernst, und die Zeiten sind auch nicht gerade fröhlich, als dass wir uns einfach damit begnügen können, einen Eimer Wasser über den Kopf zu kippen.“ Gleichzeitig fordert Sigmar Gabriel die ZDF-Moderatorin Marietta Slomka auf, bei der Aktion mitzumachen.

Nur Angela Merkel, die Pfarrerstochter, fühlt sich offenbar noch der alten Schuldkultur verpflichtet, die sich nicht darum kümmern muss, was andere von einem erwarten. Der Regierungssprecher Steffen Seibert verbreitete (immerhin via Twitter) ihre Reaktion auf die „Ice Bucket Challenge“: „Ich bitte um Verständnis, dass wir grundsätzlich nicht darüber berichten, wem die Bundeskanzlerin persönlich Geld spendet.“

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