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Kolumne: Ich habe verstanden

Matthias Kalle über Konstruktivismus, den 1. Mai und Rudi Dutschke.

Völlig richtig: das ist hier nicht der Platz, um sich Gedanken zu machen über Wirklichkeit, Realität und deren Konstruktion, beziehungsweise Dekonstruktion. Würde ich damit jetzt anfangen, dann würde ich in den Kommentaren zu recht bös beschimpft, was gar nicht mal so sehr an mir liegt, sondern zum Beispiel am Konstruktivismus an sich, von dem es ja ein paar Varianten gibt, von denen die meisten immerhin die Auffassung teilen, dass ein erkannter Gegenstand von Betrachter selbst durch den Vorgang des Erkennens konstruiert wird – was zur Folge hat, dass der Mensch nicht dazu in der Lange ist objektive Realität zu erkennen, wie er sich die Wirklichkeit, seine Wirklichkeit, in seinem Kopf zusammensetzt (Jacques Derrida und den Dekonstruktivismus lassen wir an dieser Stelle mal komplett außen vor, passt nun wirklich nicht in eine Kolumne mit dem Titel „Ich habe verstanden“...).

Dummerweise spielte der Konstruktivismus aber eine Rolle in der vergangenen Woche, denn die letzten Tage haben bewiesen, das man in Berlin leben kann und alles, was um einen herum passiert, anders wahrnehmen kann als der, der neben einen steht. Den 1. Mai zum Beispiel. Einem Kollegen, er wohnt seit ein paar Jahren im Kreuzberger Graefekiez, war relativ neu, dass an diesem Datum etwas passiert in dieser Stadt, er selbst sei an diesem Samstag auf einer Taufe. Für viele Berliner setzte Innensenator Erhart Körting (SPD) die Wirklichkeit in seinem Kopf auch vollkommen anders zusammen – das sogt dann für Verwirrung.

Für Verwirrung sorgte auch die Quote des Fernsehspiels „Dutschke“ im ZDF: Bisschen mehr als eine Million Menschen wollten das sehen, einige gaben dem Fußball die Schuld dafür (auf Sat 1 lief parallel das Champions-League Halbfinale Lyon gegen Bayern München, das schauten knapp zehn Millionen Menschen, die Sendungen die zur gleichen Zeit bei RTL oder Pro7 liefen, hatten übrigens keine großen Quoteneinbrüche, so dass man nicht behaupten könne, das ZDF habe „Dutschke“ versendet, jedenfalls nicht in der Realität, in der ich mich so bewege), andere wiederum fanden den Film so grottenschlecht, dass sie lieber ein Buch von Wolfgang Kraushaar oder Claudius Seidl in die Hand nahmen, die einzigen Personen, die in dem Doku-Teil auftauchten und nicht komplett irre wirkten. Und ein paar stellten sich danach dann doch die Frage, ob Rudi Dutschke nun wichtig war, oder nicht (während ich von welchen gehört habe, die eine Umbenennung der Rudi-Dutschke-Straße in Ivica-Olic-Straße forderten).

Und dann war es zehn Uhr am Dienstagabend, und auf arte startete die zehnteilige Krimiserie „Im Angesicht des Verbrechens“ von Dominik Graf (280000 Zuschauer), und natürlich hatte ich alle Hymnen darauf gelesen und jedes Interview mit dem Regisseur auch – und trotzdem war ich nicht vorbereitet auf das, was dann passierte: Berlin, wie ich es im Fernsehen noch nie gesehen habe, Schauspieler, die das, was sie tun und sagen auch so zu meinen scheinen, Geschichten, die ich zu Ende hören will – ein Geflecht, ein Gestrüpp aus Alltag und Drama und Leben.

Die Serie ist die Wahrheit, die Wahrheit des Regisseurs Graf und des Drehbuchschreibers Rolf Basedow – eine unglaubliche, große Wahrheit, und man versteht Berlin danach ein bisschen besser und die Menschen und ihre Träume, Sehnsüchte und Ängste. Das kam mir in meiner Welt jedenfalls so vor.

Kann aber auch sein, dass das ganz großer Quatsch ist.

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