zum Hauptinhalt
Ein Plakat mit der Aufschrift "Hilfe, die Touris kommen!" in Kreuzberg.

© dpa

Ich habe verstanden: Der Kiez ist kein Sehnsuchtsort

"Hilfe, die Touris kommen", lautete das Motto einer Podiumsdiskussion der Kreuzberger Grünen. Matthias Kalle meint, dass alle, die gegen alles sind, was nicht in ihren Kiez passt, überprüfen sollten, ob sie die Standards, die sie von den "Fremden" verlangen, selber einhalten.

Als ich 20 war, lebte ich eine zeitlang in New York.

An dem Satz stimmt alles, er ist nur sehr ungenau, exakt wäre es, wenn ich schreiben würde: Als ich 20 war, war ich mit drei Freunden für vier Wochen in New York um Urlaub zu machen und die Stadt zu erkunden. Erst aus dem etwas ausführlicherem Satz lässt sich vermuten, dass ich einmal während der Semesterferien als Tourist in New York war, in einem heruntergekommenen Hotel in Manhattan mit drei anderen gewohnt habe, dass ich mir vermutlich den Broadway, den Central Park, das Empire State Building, das World Trade Center (es war das Jahr 1996) und noch einiges andere angeschaut habe.

Ausgehen, das Nachtleben kennenlernen, konnten wir nicht, denn drei von uns waren 20 Jahre alt, nur einer war 21, das Alter, in dem man in die Clubs kommt. Der, der 21 Jahre alt war, musste dann auch jeden Abend in einen Spätkauf gehen und Bier kaufen, das wir dann auf unserem Hotelzimmer tranken. Nach einer Woche, so berichtete er, wurde er in dem Spätkauf so begrüßt: "Ah, germans, beer, beer!"

Ich war dann noch ein paar Mal in New York, das letzte Mal vor vier Jahren mit einem guten Freund. Wir sind jeden Abend ausgegangen, meistens um etwas zu essen, danach haben wir in einer Bar noch ein Bier getrunken, überall waren die Menschen nett und freundlich, auch die Deutschen, die man hier und dort sah. Immer, wenn ich in New York bin, denke ich an den Satz, den Nick Nolte in dem Episodenfilm "New York Stories" sagt: "New York ist nicht irgendeine Stadt. Es ist die einzige Stadt."

Ich werde mit Sicherheit niemals in New York leben. Dafür bin ich zu feige und ich beherrsche auch die Sprache zu wenig. Ich lebe seit zehn Jahren in Berlin, dafür reicht mein Mut und das mit der Sprache macht keine großen Probleme, obwohl ich manches nicht verstehe, zum Beispiel den Satz, den die Kreuzberger Grünen zum Motto einer Podiumsdiskussion gewählt haben: "Hilfe, die Touris kommen."

Der Satz ist deshalb ja auch falsch, weil die "Touris" doch schon da sind, immer noch zu wenig zwar, aber immerhin. In dieser Woche las ich im Tagesspiegel sehr viel über diese Veranstaltung und über die Angst der Kreuzberger vor den Touristen. Ein Radiosender hat daraufhin einen Reporter in den Wrangelkiez geschickt, um mal nachzuhören, wie tourismophob die Anwohner dort sind - das Ergebnis war, dass sich im Prinzip niemand negativ über Touristen äußerte - nur einer sagte, er würde jetzt dann doch nach Neukölln ziehen, allerdings nicht nach Kreuzkölln, diese Unterscheidung war dem Mann wichtig.

Vor drei Jahren stand im Tagesspiegel ein großes Interview mit dem Musiker und Schriftsteller Sven Regener. Das Interview ist nicht nur groß, sondern auch sehr gut, was der Mann sagt, hat Hand und Fuß. Damals ging es in dem Gespräch auch um die Furcht vor den Schwaben in Prenzlauer Berg. Regener ist kein Schwabe, sondern gebürtiger Bremer. In Berlin lebt er seit den 80er Jahren, heute wohnt er in Prenzlauer Berg, ein schönes, neueres Stück seiner Band "Element of Crime" heißt "Delmenhorst". Das ist ein Ort in der Nähe von Bremen, und in dem Lied singt Regener: "Ich bin jetzt immer da, wo du nicht bist / und das ist immer Delmenhorst. Es ist schön, wenn's nicht mehr weh tut / und wo zu sein, wo du nie warst."

Delmenhorst als Sehnsuchtsort - da muss man ja auch erstmal drauf kommen. Kreuzberg scheint für Regener allerdings kein Sehnsuchtsort zu sein, in dem Tagesspiegel-Interview sagte er damals: "Und was heißt schon Kreuzberg? In Kreuzberg gab und gibt es doch ohne Ende Parallelwelten. Das ist doch so eine Mulitkulti-Lebenslüge: Ich habe in Kreuzberg nie einen Deutschen gekannt, der mit einem Türken befreundet gewesen war. Und in die Türkencafés, das nur mal als Beispiel, darf man oft gar nicht rein. Aber das macht ja nichts, die Leute müssen doch nicht den ganzen Tag Händchen halten, und wenn es einem nicht passt, zieht man weg. (…) Der ganze Kiez-Quark, das ist doch alles nur muffig. (…) Denn wenn einer sagt, unser Kiez soll so und so sein, ist das die Voraussetzung dafür, dass einer totgeschlagen wird, wenn er nicht reinpasst."

Das war im Sommer 2008, aber das Gespräch gilt jetzt, im Frühjahr 2011, ebenso. Es sollte Pflichtlektüre werden für jeden Zugezogenen, Einheimischen - für jeden, der in dieser Stadt nicht nur zu Besuch ist.

Und diese Besucher, die Touristen, die scheinen sich ja auch nur an dem zu orientieren, was sie auf der Straße beobachten: Sobald es dunkel wird, muss man mit einer Bierflasche vor die Tür gehen und der Begriff "öffentliche Toiletten" wird in Berlin sehr allumfassend interpretiert. Die Touristen passen sich an, viele denken vielleicht wirklich, besoffen und grölend durch die Stadt zu rennen sei eine gute regionale Sitte.

Und vielleicht sollten sich die, die gegen das "Fremde" sind, gegen Schwaben, Touristen und alles, was nicht in ihren Kiez passt, mal überprüfen, ob sie die Standards, die sie von dem "Fremden" verlangen, selber einhalten. Und wer dann immer noch findet, dass das alles so nicht mehr weitergeht, der kann ja bei einem beliebten deutschen Wettbewerb mitmachen: Unser Dorf soll schöner werden.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false