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Kolumnist Matthias Kalle über das seltsame Spiel der Liebe und CDU-Politiker Christian von Boetticher.

© promo

Ich habe verstanden: Kann das auch bei uns passieren?

Wenn in England Jugendliche randalieren oder in Japan ein Atomkraftwerk explodiert, fragt sich jeder, ob das auch hier passieren könnte. Aber: Warum könnte neben all den schlechten Dingen nicht auch Gutes hier passieren - zum Beispiel gute Filme oder herausragende Musik?

Jedes Jahr scheint eine Frage zu haben, eine Art Überfrage, die den Geist des Jahres auf den Punkt bringt. Die Überfrage dieses Jahres – das kann man Mitte August bereits feststellen – lautet: „Kann das auch bei uns passieren?“

Denn das ist die Frage, die auf jedes Ereignis des Jahres passt – es ist die Frage, die gestellt wird, wenn in Japan ein Atomkraftwerk den Super-Gau erlebt, wenn in Norwegen ein Mann über 90 Menschen umbringt, wenn in England Jugendliche die Städte in Schutt und Asche legen. Die Fragen lauten nicht: Wie geht es den Menschen dort jetzt? Was können wir tun, um denen, die leiden, Hilfe, Menschlichkeit, Mitgefühl zu bringen? Es ist immer die egoistische Frage danach, ob uns auch so etwas passieren könnte.

Interessanterweise findet sich immer ein „Experte“, der erklärt: Nee, bei uns kann so etwas nicht passieren. Diese Experte sagen damit nichts anders als: Wir sind ja hier keine Bananenrepublik – bei uns funktionieren Recht und Ordnung und technisch macht uns eh keiner was vor, denn wir leben im tollsten Land der Welt.

Abgesehen davon, dass das tollste Land der Welt Norwegen war (und immer noch ist, nachdem Ministerpräsident Stoltenberg seine Landsleute zu MEHR Offenheit, MEHR Toleranz aufgerufen hat), ist das natürlich ganz großer Quatsch. Warum sollte ausgerechnet hier keine Katastrophe geschehen? Warum sollten wir hier von einem Super-Gau verschont bleiben? Warum sollte hier niemand auf die Idee kommen, Menschen aus Hass umzubringen? Warum brennen Paris und London aber nicht Berlin? Aber vor allem: Warum tun immer alle so, als ob wir auf einer Insel der Glückseligkeit leben würden?

Natürlich kann alles Schlechte, was in der Welt passiert auch hier passieren – die Frage muss doch eigentlich lauten: Warum passiert all das Gute nicht auch hier? Die Frage „Kann das auch bei uns passieren?“ sollte tatsächlich bei anderen Themen ebenso gestellt werden.

Lesen Sie auf Seite 2: Eine kleine Auswahl aus anderen Themen

Die besten TV-Serien der Welt kommen aus den USA – kann das auch bei uns passieren?

Nee, leider nicht, wir haben dafür nicht die Leute, die Sender haben dafür nicht den Mut, möglicherweise haben wir dafür nicht einmal die Zuschauer, denn als Dominik Grafs Serie „Im Angesicht des Verbrechens“ im vergangenen Jahr lief und immerhin andeutete, was möglich wäre, wollten das nicht unbedingt viele sehen.

Die aufregendste Popmusik kommt nun schon seit Jahrzehnten aus England – kann das auch bei uns passieren?

Eher nicht - in einem Land, in dem zwei Männer, die sich „Amigos“ nennen auf Platz 1 der Charts landen und von dort Amy Winehouse und Casper verdrängen; in einem Land, in dem die Scorpions genau so möglich waren wie Dieter Bohlen.

Neben all den Blockbustern drehen die in den USA auch immer noch so unglaubliche Filme wie „Blue Valentine“ - kann das auch bei uns passieren?

So lange es jemanden wie Matthias Schweighöfer gibt, den manche für einen Schauspieler halten, und der der „Bild“ versprochen hat, wenn mehr als fünf Menschen oder so sich den Film anschauen, bei dem er zum ersten Mal Regie geführt, würde er im Schlüppi durchs Brandenburger Tor rennen – so lange ist das wohl nur theoretisch möglich.

In vielen europäischen Metropolen sind die Menschen gut angezogen – kann das auch bei uns passieren?

Unwahrscheinlich. Das liegt allerdings nicht daran, dass hier die Menschen weniger Stil hätten – es liegt daran, dass man den Menschen zum Beispiel einredet, dass Heidi Klum gut angezogen sei oder es sich bei Ed Hardy tatsächlich um einen Designer handeln würde.

Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen leben die glücklichsten Menschen der Welt in Nigeria, Bangladesch und Burkina Faso – kann das auch bei uns passieren?

Anscheinend ja wohl nicht. Denn auch dafür gibt es eine wissenschaftliche Erkenntnis – sie nennt sich „Fortschrittsparadox“ - der Amerikaner Gregg Easterbrook hat darüber 2003 ein Buch geschrieben „The Progess Paradox: How Life Get's Better While People Feel Worse“. Da steht im Prinzip drin, warum wir ständig so unglücklich sind. Weil die Symptome einer funktionierenden Wohlstandsgesellschaft nun einmal schlechte Laune, Stress und Gereiztheit seien.

Und wohl auch das ständige sich vergewissern müssen, dass es anderswo alles noch viel schlimmer ist.

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