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Meinung: Im Dunkeln sieht man nicht

Die Bundesregierung will das Sexualstrafrecht verschärfen

Missbrauchte Kinder – geschändet gequält, getötet. Keine Tat ist schrecklicher, nichts ist empörender. Es sind meist diese Fälle, die die Menschen im Kopf haben, wenn sie ein schärferes Sexualstrafrecht einfordern. Aber darum geht es nicht in dem Regierungsentwurf, der am Donnerstag in den Bundestag kam. Es geht um weniger Grausames, aber um nicht weniger Schlimmes: um die zigtausende Fälle, in denen ein Erwachsener ein Kind zum Objekt seiner Lust macht – meist unentdeckt, meist unbestraft, meist in der Familie. Ein unerträglicher Zustand und vor allem: Ein Dauerzustand.

Sex mit Kindern muss härter bestraft werden. Das ist ein Allgemeinplatz. Deshalb wird der Entwurf der Bundesregierung in dieser oder veränderter Form Gesetz werden. Jeder Zweifler, jede kritische Stimme wäre sofort isoliert. Dies ist der Moment, in dem der Gesetzgeber kurz innehalten sollte. Denn wenn sich alle sicher geben, verdeckt dies meist nur, dass sie unsicher sind – unsicher, wie das wohl größte gesellschaftliche Tabu angemessen in das Strafgesetzbuch zu übersetzen ist.

Der Umgang mit dem Tabu wird noch schwieriger, weil die erwachsene Sexualität tabulos geworden ist – so tabulos, dass in Werbung, Fernsehen und Magazinen offensiv und ohne Unterlass mit Sexualität gereizt wird, sogar, Gipfel der Schizophrenie, mit kindlicher Sexualität. Ergötzen wir uns unschuldig an der Schönheit der Jugend? Oder beginnt hier qualifiziertes Päderastentum? Ein jeder prüfe die Medien. Und sich selbst.

Es gibt einen erheblichen Anteil Erwachsener, meistens Männer, auf die kindliche Reize stimulierend wirken. Ein Bruchteil von ihnen nähert sich Kindern sexuell. Einerseits tun wir offenbar alles dafür, dass Kinder öffentlich als Reiz goutiert werden – und fordern andererseits, dass jene, die sich an ihnen vergehen, härter bestraft werden. Das ist kein Widerspruch, sondern Psychologie und zugleich ein Grund dafür, weshalb man nicht einfach jeden Mann, der ein Kind sexuell berührt, auf Jahre in Haft schickt. Der andere Grund ist Gewalt. Fehlt sie, sind bleibende Schäden seltener. Experten sind sich weitgehend einig: Sexualität ist für Kinder vor allem dann eine Qual, wenn sie mit Gewalt erzwungen wird.

Wie bestraft man das? Die Richter brauchen einen weiten Spielraum, um Einzelfällen gerecht werden zu können. Sie können dies jetzt und werden es auch nach der Reform tun. Wirklich scharf an der Verschärfung ist, dass jemand, der mit einem Kind den Beischlaf vollzieht, mit mindestens zwei Jahren Haft bestraft wird und deshalb meist auch ins Gefängnis muss, weil Haftstrafen über zwei Jahre nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden können. Das ist auch angemessen, aber man wird von potenziellen Tätern kaum erwarten, dass sie dieses Detail zur Kenntnis nehmen. Und auch das neue Strafmaß ändert nichts am Hauptproblem: dass die Taten im Dunkeln bleiben.

Hier soll die Anzeigepflicht greifen. Künftig sollen Nachbarn oder Freunde den Behörden melden, wenn sie von Missbrauch erfahren. Ausgenommen sind Angehörige und andere Vertrauenspersonen. Das ist richtig, damit sich Vertraute nicht gegenseitig denunzieren müssen. Andererseits findet Missbrauch häufig gerade in der Familie statt. Ein Dilemma, das nicht zu lösen ist. Zudem: Wer etwas verschweigen will, schweigt auch mit der Strafdrohung weiter. Und sollte er vor Gericht kommen, wird man ihm sein Wissen schlecht nachweisen können. Die Anzeigepflicht ist symbolische Gesetzgebung. Ein gut gemeinter Appell, mehr nicht.

Das neue Sexualstrafrecht ist nötig und gut, nur: Es wird am unerträglichen Dauerzustand Kindesmissbrauch nicht viel ändern, weil Strafrecht hier nur begrenzt etwas ändern kann. In puncto Härte hat es die Obergrenze erreicht. Zehn Jahre Haftdrohung für einen Zungenkuss sind genug. Fangen wir demnächst besser einmal bei uns selber an. Zum Beispiel bei der Werbung.

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