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Meinung: Im Namen des Volkes

Horst Köhler braucht kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn er Neuwahlen ermöglicht

Das Donnerwort „Landgraf, werde hart“ hämmerte der Schmied von Ruhla in der thüringischen Sage dem unter seinem Dach Schutz suchenden Landesherrn die ganze Nacht in die Ohren, um ihn zur Entschiedenheit anzuhalten. Bundespräsident, weigere dich, den Weg zu Neuwahlen zu öffnen, hallt es immer stärker aus den Kommentarspalten. Tatsächlich riecht das praktizierte Verfahren penetrant nach Manipulation. Schon die Achtung vor der Verfassung legt den Schluss nahe, der Bundespräsident möge sich als Hüter der Verfassung zeigen und das Unternehmen stoppen.

Aber bevor man das gut findet, sollte man sich klar machen, was es bedeutet. Der Bundespräsident müsste sich – allein gegen (fast) alle – dem gemeinsamen Willen der Parteien nach Neuwahlen entgegenstemmen. Mit den schmalen politischen Kräften, die ihm das Grundgesetz zumisst, müsste er die Entscheidung der gesamten politischen Klasse aushebeln – und zugleich alle die Wahlplattformen, Kandidaten, Landeslisten und Wahlkampfplanungen kippen, mit denen sich die Parteien bereits aufgestellt haben. Das mag man den Parteien gönnen, die mit einer Achtlosigkeit, die an Verachtung grenzt,mit der Verfassung umgesprungen sind. Aber entsteht durch einen solchen Kraftakt politisches Vertrauen, da doch die Stimmung längst auf Neuwahlen programmiert ist?

Und wozu? Um einen Kanzler im Amt zu halten, der nicht mehr will – zumindest nicht in der dann festgeschriebenen Konstellation? Um eine Koalition zum Weiterregieren zu zwingen, die es – deutet man die Signale aus SPD und Grünen richtig – eigentlich kaum noch gibt? Durchaus möglich, dass Schröder bei der Vertrauensfrage eine Mehrheit bekäme, wenn er sie denn wollte und die Koalition zur Zustimmung verdonnerte. Aber regieren könnte er mit dieser Gefolgschaft, die Tag für Tag mehr auseinander fällt, nicht. Gewiss ist diese Vertrauensfrage zur Herstellung des Misstrauens – misst man sie an der Papierform des Parlaments – getürkt. Aber die größere Täuschung über den Zustand Schröders und seiner Koalition wäre heute schon eine Vertrauensfrage, die positiv beantwortet würde.

Fraglos haben die Verfassungsrichter das Urteil, mit dem sie 1983 dieses abenteuerliche Verfahren legitimierten, mit langen Zähnen gesprochen. Aber wer es als Fehlurteil abtut, macht es sich zu leicht. Es führt in die Anwendung des Grundgesetzartikels 68, der das Weiterregieren will, wenn es nur irgendwie von den Mehrheitsverhältnissen gedeckt wird, Elemente der pragmatischen Einschätzung der Lage ein – mit dem Kanzler als Kronzeugen. Dahinter würde auch Karlsruhe nicht zurückgehen können.

Die Prozedur, die Schröder angestoßen hat, ist wahrhaftig unbefriedigend. Doch nicht weniger unbefriedigend wäre es, wenn dem gemeinsamen Willen der Parteien, mit Neuwahlen einen neuen Anfang zu versuchen, mit einer Vollbremsung begegnet würde. Der Streit um die Neuwahlen konfrontiert uns offenbar mit dem Fall, dass sich die politische Wirklichkeit an den Maßgaben der Verfassung vorbeidrängt. Das Urteil von 1983 eröffnet die Möglichkeit, dem Rechnung zu tragen. Ein Bundespräsident, der sich von dieser Möglichkeit leiten lässt – zu der sich 1983 auch ein renommierter Staatsrechtler wie Karl Carstens durchrang – braucht kein schlechtes Gewissen zu haben. Aber für die Politik gilt, dass eine Regelung der Bundestagsauflösung, die uns die gegenwärtigen Verrenkungen erspart, in der nächsten Legislaturperiode angepackt werden muss.

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