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Meinung: Im Osten geht die Sonne unter

Wenn es den alten Bundesländern schlecht geht, wie geht es dann erst den neuen?

Hundert Tage rot-grüne Bundesregierung sind, versteht sich, auch hundert Tage Manfred Stolpe. Aber in diesem Fall wirft die Bilanz weniger die Frage nach Leistung und Versagen des Ministers auf, der zum Nothelfer für den Osten bestellt wurde, als die nach dem Zustand der neuen Länder selbst. Das ist ein herbes, in seiner Aktualität verdrängtes Thema.

Die großen Plakate, die uns zum Beispiel nach Sachsen einladen und ein blühendes Dresden zeigen, lügen ja nicht. Aber das tun, leider, auch die Wirtschaftsdaten nicht, die bedrückend sind. Und auch nicht der Leipziger Bürgerrechtler, der unlängst den zum Talk über die Chancen des Ostens versammelten Lothar Späth und Gregor Gysi ein zorniges „Die Stimmung ist miserabel“ entgegenschleuderte.

Vielleicht liegt das Problem darin, dass es mehr von dieser Gleichzeitigkeit des Ungleichen gibt, als eine Gesellschaft verkraften kann. Auf der einen Seite Daten, angesichts derer man nach 13 Jahren Aufbauarbeit alle Hoffnungen fahren lassen möchte: Die Arbeitslosigkeit mehr als doppelt so hoch wie im Westen, zwanzig Prozent Wohnungsleerstand, unverminderte Abwanderung. Auf der anderen Seite die Erfolgsnachrichten: Jena, Dresden, Region Halle-Leipzig, die Standorte neuer Hochleistungsindustrien. Wie lange kann das gut gehen? Wird es überhaupt je gut werden?

Denn alle Widersprüchlichkeiten ändern nichts an dem fatal eindeutigen Befund, der unter dem Strich bleibt: dass die neuen Länder stagnieren, ja, im Gesamtbild der Republik abrutschen. Natürlich, es geht voran, aber so langsam, mit so vielen Einbrüchen, unter dem Zurückbleiben so vieler, dass sich die Bilanz ins Negative verschiebt. Schon seit 1996 ist der Angleichungsprozess des Ostens an den Westen stecken geblieben. Inzwischen ist der Offenbarungseid nicht mehr zu vermeiden: Die mit der Wiedervereinigung verbundene Erwartung eines raschen Aufschwungs war eine Illusion. Die Gräben werden nicht mehr kleiner, sondern wieder größer – zwischen Ost und West wie zwischen denen, die im vereinigten Land Fuß gefasst haben, und denen, die den Anschluss nicht geschafft haben.

Auch Rot-Grün ist es nicht gelungen, diesen Prozess zu stoppen oder ihn gar umzukehren. Die Verlängerung des Solidarpakts, der den neuen Ländern einen Sicherheits-Verband anlegt, das Avancement des Ostens zur Chefsache: die generelle Misere dauert fort. Der Aufbau Ost liegt im Clinch mit dem Abbau der Erwartungen, des Vertrauens in die Zukunft, der Genugtuung über die Einheit. Der Gradmesser dafür ist die Abwanderung. Längst ist sie nicht mehr nur die Folge des Mangels an Arbeitsplätzen. Immer deutlicher ist sie auch ein Urteil über die Gesamtentwicklung des Ostens: zunehmend sind es – wie eine Aufsehen erregende Studie in Sachsen nun zeigte – die Qualifizierten, die gehen.

Dementsprechend nervös sind die Ärzte am Krankenbett der neuen Länder geworden, die Politiker und Sachverständigen. Die Schüsse aus der Hüfte häufen sich – ein Beispiel dafür war Stolpes Gedanke eines Zukunftsfonds für notleidende Gemeinden. Doch ohne Sonderprogramme vermag sich keiner die Zukunft des Ostens vorstellen – an ein Wachstumsprogramm hat der Sachverständigen-Rat gedacht, an eine Art Sonderwirtschaftszone Wirtschaftsminister Clement. Rund 40 Posten umfasst die Auflistung der Maßnahmen, die die Bundesrepublik für die neuen Länder im Köcher hat – von Futour, der Förderung technologieorientierter Unternehmensgründungen bis zum „Goldenen Plan Ost“ der Sportförderung. In Wahrheit herrscht Ratlosigkeit.

Lange ist der Osten als lästige Nebensache angesehen worden. Das ging so lange gut, wie es dem Westen gut ging. Seitdem der Westen durchhängt, wird der Osten zum Klotz am Bein, der das Ganze gefährdet. Kein Wunder, dass bei den Erklärungen für die wirtschaftliche Schwäche der Bundesrepublik immer öfter die Wiedervereinigung auftaucht. Aber zugleich ist die Erkenntnis überfällig, dass die deutsche Wirtschaft nicht wieder vorankommt, wenn der Osten nicht auf die Beine kommt. Die Phrase von dem Boot, in dem wir sitzen, wird nun, wo das Boot leckt, zur bitteren Wahrheit.

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