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Meinung: Im Rausch der Wellen

Pascale Hugues, Le Point

Was geschieht, wenn Schneegestöber und Stürme über der Ostsee ein Haus in Mecklenburg von der Außenwelt abschneiden? Wenn man in einem kleinen Seebad, das im Winter von Rentnern und Rekonvaleszenten bevölkert wird, seine Zeitung einen Tag im Voraus bestellen muss? Wenn der örtliche Laden am Samstag um zwei Uhr nachmittags schließt und erst am Montag wieder aufmacht? Und wenn man dann auch noch den Code für die Kindersicherung des Fernsehers vergessen hat?

Dann schrumpft die große weite Welt auf ein 40 mal 20 Zentimeter großes Gehäuse zusammen. Dann gibt es nur noch das alte GrundigRöhrenradio auf dem Kühlschrank, das den Sound der Ferne in meine Einsiedelei trägt. Ich kann jetzt „Südschleswigscher Wählerverband“ im Genitiv stotterfrei aussprechen. Ich kenne die Quecksilberschübe des päpstlichen Thermometers. Es gibt nur ein Rätsel, das ich noch nicht gelöst habe: Wie um Gottes willen konnte Christian Wulff den ersten Platz in den Herzen der Deutschen erobern? Ich muss gestehen, dass mir die erotische Ausstrahlung von bleichen Messdienern noch nie eingeleuchtet hat und mich der Seelenzustand dieser Nation ernsthaft beunruhigt.

Das alte, kränkelnde Grundig legt vor dem Anspringen eine kurze Pause ein, nimmt dann sein Flüstern wieder auf und lässt ein Meer aus warmen Stimmen in mein Zimmer fließen. Im Laufe der Tage zieht sich die Außenwelt immer weiter zurück. Allein die Geräusche des Nachbarn, der den Gehweg vor seinem Haus frei schaufelt, erwecken mich morgens wieder zum Leben. Manchmal, abends, wenn das Eingeschlossensein bedrückend wird, unternehme ich eine Reise durch die Mittelwellen. Ich muss nur mit dem Daumen einen großen Knopf drücken, um alle Grenzen zu sprengen und mich, ohne ein einziges Wort zu verstehen, von der sanften Stimme einer polnischen Moderatorin einlullen zu lassen. Selbst Paris, meine Hauptstadt, hat das Recht auf eine Station auf der Mittelwellenskala: Ein unverständliches Gurgeln tropft aus dem Radio. Ich habe das Gefühl, an einem sintflutartigen Regentag in einen Abwasserkanal unter dem Hausmann-Boulevard geraten zu sein. Rom, Stockholm und Monte Ceneri sind stumme Stationen. Kein Ton, nicht mal ein Zischeln. Das Grundig ist nicht mehr stark genug, um mich über diese exotischen Orte auf dem Laufenden zu halten. Tot ist auch die einst so kämpferische Frequenz von Radio Tirana. Dort, wo früher Moskau lautstark die Weltrevolution propagierte, scheint jetzt eine junge Männerstimme drei Sprachen gleichzeitig zu flüstern. Allein die tapfere BBC hat ihre zivilisatorische Mission noch nicht aufgegeben.

Nur als Radiohörer kann man es wagen, um acht Uhr abends, wenn ganz Deutschland vor Günther Jauchs Doppelkinn hängt, in einem halbstündigen gelehrten Beitrag zu versinken, der an die Premiere von Victor Hugos „Hernani“ in der Comédie Française im Jahre 1830 erinnert. Einschaltquote garantiert unter null, wie das Thermometer in dieser eisigen Nacht. Bei Hugo lieben drei Männer im Kastilien des 16. Jahrhunderts die gleiche Frau. Bei Jauch schielen drei Kandidaten auf einem Barhocker nach der Million. Liebe und Geld – die zwei Triebkräfte, die die Welt in Gang halten. Draußen fällt lautloser Schnee, jenseits der Dünen rollt das Meer. Hinter den Gardinen meiner Nachbarn zeichnen sich die blauen Reflexe des Fernsehers ab. Ich muss die einzige in ganz Mecklenburg sein, die an diesem Abend den Mittelwellen eines alten Radios lauscht. Aber plötzlich fällt es mir ein: 4444. Der Geheimcode für die Kindersicherung! Was nun? Weiter der Liebe lauschen? Oder zu guter Letzt doch lieber den Mammon anstieren?

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