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Meinung: In den Aktien an der Wahrheit

Von Barbara John WO IST GOTT? Bei meiner Arbeit habe ich mit Menschen zu tun, die sich zu verschiedenen Religionen bekennen.

Von Barbara John

WO IST GOTT?

Bei meiner Arbeit habe ich mit Menschen zu tun, die sich zu verschiedenen Religionen bekennen. Meist geht es dann um die Lösung praktischer Probleme wie z. B. die Hilfe bei der Beschaffung oder Errichtung von Gebetsräumen, bei der Einreise eines Geistlichen oder um öffentliche Anerkennung hoher religiöser Festtage. Vor diesen Gesprächen versuche ich, mich durch Lektüre ein wenig mit den Glaubensinhalten und der Geschichte der einzelnen Gemeinschaften vertraut zu machen. Dabei fällt auf, dass fast alle Religionen eine jeweils einzigartige Verbindung zu Gott voraussetzen. Wenn den Muslimen, Hindus, Buddhisten, Sikhs, Jesiden, Christen oder Juden die Frage gestellt würde „Wo ist Gott?“, dann hätten sie sicher geantwortet, dass Gott in ihrer eigenen Gemeinschaft zu Hause sei.

Seit der Aufklärung, die uns die wunderbare Lessing’sche Ringparabel geschenkt hat, würde diese Antwort kaum noch als Provokation, gar als Gotteslästerung empfunden. Und doch: die Vorstellung, dass Gott, der doch mit der vertrauten Religion im Bunde ist, auch in gleicher Weise mit vielen anderen verbündet sein soll, das hört man nicht gern und glauben muss man es ja ohnehin nicht. So wie Kinder die Mutter oder den Vater als meine Mutter und meinen Vater bezeichnen und verstehen, so sehen Religionsgemeinschaften Gott als „ihren Gott“ an, so ist es jedenfalls oft zu lesen. Wo also ist Gott in Berlin zu finden? In den Tempeln der Buddhisten, der Sikhs oder der Juden, in den 80 muslimischen Moscheen und Gebetsräumen, in den mehr als 350 christlichen Kirchen?

Wen wir mit Sicherheit in den Kultstätten finden, das sind Menschen, die Zwiesprache mit Gott halten, indem sie zu ihm beten, ihn loben, manchmal auch mit ihm hadern. Das alles geschieht – äußerlich betrachtet – auf unterschiedliche Art und Weise: die einen knien auf Teppichen, beugen sich lange und tief und beten gemeinsam, um Ehrfurcht zu bezeugen. An anderen Orten stehen Beter vereinzelt in völlig lockerer Körperhaltung. Hinweise über die Anwesenheit Gottes ergeben sich weder aus der Form des Gebets noch aus der verwirrenden Fülle und Verschiedenheit der Raumausstattung und Raumgestaltung. Der unfassbare Reichtum an Formen, Farben, Handlungen und Bewegungen in den Gotteshäusern und beim Zwiegespräch mit Gott macht offenbar: die gläubigen Menschen halten winzige Anteile an einer äußeren Wahrheit, wo und wie Gott zu finden ist. Jede Religionsgemeinschaft und jeder betende Mensch hat also nur ein paar Aktien an dieser Wahrheit. Die Wahrheit aber bleibt bei Gott. Niemand kann über ihn verfügen.

Die Autorin ist seit 1981 Ausländerbeauftragte des Landes Berlin.

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