zum Hauptinhalt
Protest gegen Rechtsextremismus an einem Plattenbau in Dresden.

© dpa

Integration: Ostdeutschlands Mief darf nicht auf den Westen abfärben

Um Integration war es in der Westrepublik besser bestellt als im vereinigten Deutschland, meint Zafer Senocak. Er vermisst die alte Bundesrepublik und wünscht sich eine Wiederbelebung westdeutscher demokratischer Traditionen.

Keine Ära hat Westdeutschland so geprägt wie die Phase des Aufbruchs zwischen 1967 und 1974 mit ihrer grundlegenden Umorientierung der Gesellschaft, geprägt von einer starken kritischen Öffentlichkeit. Die politische Integration in den Westen, die von Anfang an zum Selbstverständnis der Bundesrepublik gehörte, wurde erst mit der geistigen Integration in den Siebzigern abgeschlossen.

Dieses reformierte Deutschland wagte die Konfrontation mit den autoritären Strukturen, mit antidemokratischen Traditionen und der schrecklichen Geschichte des „Dritten Reichs“. Es integrierte binnen weniger Jahre eine hohe Anzahl von ausländischen Arbeitnehmern erfolgreich in den Arbeitsmarkt. Diese Integrationskraft war eine Folge wie auch ein Antriebsfaktor des Wirtschaftswunders. Heute wird an diese erste Phase der Einwanderung kaum noch erinnert. Ebenso verblasst ist die Erinnerung an die Innovationskraft des westdeutschen Staates.

Dieses liberale, weltoffene, wertorientierte Deutschland von Willy Brandt, Richard von Weizsäcker und Hildegard Hamm-Brücher existiert seit 1990 nicht mehr. An seine Stelle ist das vereinte Deutschland getreten. Und ein Vergleich zwischen diesen beiden Staaten fällt nicht zugunsten des Nachfolgers aus. Ich bekenne mich zu diesem westdeutschen Staat, der mir ermöglichte, in Freiheit aufzuwachsen. Ich behaupte, dass es einen demokratischen Patriotismus in Deutschland nur geben kann, wenn er sich auf Westdeutschland beruft.

Dass alle Deutschen in einem einzigen Staat leben sollten und viele dies auch wünschten, schien historisch gerechtfertigt zu sein, weil die Geschichte, wie wir sie lesen und deuten, eine Geschichte der Nationalstaaten ist. Doch die Geschichte des deutschen Nationalstaats war nicht identisch mit der Geschichte der deutschen Demokratie. Die Weimarer Republik scheiterte kläglich. Demokratische Traditionen mussten sich auch in der Bundesrepublik langsam entwickeln. „Mehr Demokratie wagen“, mit dieser Parole wurde Willy Brandt Kanzler.

Heute müsste es heißen: Mehr Offenheit wagen, um die Demokratie zu sichern. Deutschland 2011 ist multiethnisch, eine Vielvölkerrepublik, die sich einer staatlich instruierten Integrationspolitik verschrieben hat, die autoritäre, altmodisch nationalstaatliche Züge trägt. Integration braucht aber nicht mehr Staat, sondern Intimität. Sie wird vor allem persönlich erfahren und durch emotionale Bindungen gefestigt oder auch nicht. Heimatliebe und das Gefühl der Zugehörigkeit entsteht nicht durch staatliche Verordnung, sondern durch die Attraktivität eines Landes und der Offenheit seiner Menschen. Integration, über die anlässlich der aktuellen Studie über „Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“ gerade wieder diskutiert wird, entsteht durch persönliche Erfahrungen und eine gemeinsame Geschichte. Nicht wenige Akteure aus der Migrantenszene bedienen aber die staatliche Integrationspolitik und lassen sich als Berufsmigranten instrumentalisieren. Aber hinter den Türen, die das ihnen öffnen mag, wird auf Dauer kein gemeinsamer Raum entstehen.

Ein Beispiel: Auf der Trauerfeier für die Naziopfer dolmetschte eine Übersetzerin die vielzitierte Rede von Ismail Yozgat. Sie übertrug diese klare Rede nicht einfach, sie veränderte, fügte hinzu, ließ aus. Ein Skandal während einer solchen Gedenkstunde. Doch es brauchte Tage, bis eine Journalistin, Mely Kiyak, darauf aufmerksam machte. Da wurde aus der Bundeskanzlerin „unsere“ Bundeskanzlerin „Frau Angela Merkel“ und aus Kassel-Baunatal „meine Heimatstadt“ Kassel-Baunatal, weggelassen wurde die islamische Eröffnungsformel: Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen.

Ein Migrant wurde sprachlich geformt. So kam er uns näher, wurde uns zugehörig, so wie wir ihn uns gerne vorstellen. Die Übersetzerin brauchte dafür wahrscheinlich nicht einmal eine Anweisung, sie tat es aus freien Stücken. In der DDR war das ja oft nicht anders, da tat man solche Dinge auch oft „aus freien Stücken“.

Ein Land, das es nicht mehr gibt?

Wie viel DDR steckt im vereinten Deutschland? Auffällig ist, wie wenig Bürgerrechtler ins politische System integriert wurden. Diese Menschen, die unter hohem Einsatz für ein Leben in Freiheit stritten, sind schon kurze Zeit nach der Wende in den Hintergrund getreten. Das vereinte Deutschland hat die Erfahrungen der streitbaren Personen aus der DDR eher vergeudet als nutzbar gemacht.

Im Westen Deutschlands macht man sich nach wie vor wenig Gedanken über den Osten. Über die unterschiedlichen Biografien und Erfahrungen wurde eine Einheitsrhetorik gegossen, die das Erkennen von Problemen und Bruchstellen, Seilschaften und Verstrickungen erschwert. Die Ostdeutschen wurden zu einer deutschen Identität erzogen, die wenig Berührung mit fremden Kulturen zuließ. Ostdeutschland brachte seine „Gastarbeiter“ in Heimen unter. Sie durften sich nur temporär in der DDR aufhalten, Kontakte zur einheimischen Bevölkerung waren wenig erwünscht. Das System war auf Isolation und nicht auf Austausch ausgerichtet.

Die älteren Westdeutschen, die das autoritäre Deutschland der Nazi-Zeit erlebt haben, können sich vielleicht eine Vorstellung vom totalitären SED-Staat machen. Doch die Vorstellung der Menschen im Osten von einem freien Land ist praktisch ohne Erfahrungshintergrund. Ostdeutsche, die zwischen den 30er und den 60er Jahren geboren sind, zwei Generationen also, hatten keinerlei Sozialisation in einer freiheitlichen Demokratie. Auch deshalb können sich nationalistische und rassistische Strukturen dort im Alltagsleben einfacher etablieren. Darüber wird seit Jahren berichtet. Was aber wird in den Kindergärten und Schulen dagegen getan?

Deutschland braucht eine Wiederbelebung westdeutscher demokratischer Traditionen und die Stärkung einer kritischen Öffentlichkeit. Eine Erinnerung an die Zeit, als man bereit war, etwas zu wagen. Mehr Demokratie, mehr Freiheit. Freiheit war für viele Menschen im Osten eine vage Sehnsucht, die sich mit der Öffnung der Mauer erfüllt hat. Wer gut 20 Jahre nach der Wiedervereinigung durch ostdeutsche Städte und Provinzen fährt, findet erneuerte Stadtzentren und eine gute Infrastruktur vor, keineswegs aber eine weltoffene Gesellschaft. Es liegt ein Mief über diesem Land, der inzwischen auch auf den Westen abfärbt. Denn der Osten scheint die Sehnsucht der Deutschen nach einem ungebrochenen Deutschsein besser zu bedienen als der multikulturelle Westen mit seiner Vielsprachigkeit und Vielfarbigkeit.

Diese Stimmung wird von einer Angst getragen, die ein modernes, rechtstaatliches, weltoffenes Deutschland gefährdet. Es ist die Angst vor Überfremdung, vor der Öffnung Deutschlands gegenüber fremden Kulturen, die im Westen eine längere Geschichte haben als die Ostdeutschen in der gemeinsamen Republik. Sie leben seit 1990 in der Bundesrepublik, die meisten Einwanderer schon seit den sechziger Jahren. Die Einwandererkinder, zu denen ich mich zähle, sind davon geprägt. Ich erinnere mich gern an diese Zeit. Ich verdanke ihr viel, allen voran meine Liebe zu diesem Land, das es nicht mehr gibt.

Zafer Senocak lebt als Schriftsteller in Berlin. Zuletzt erschien von ihm „Deutschsein – eine Aufklärungsschrift“.

Zafer Senocak

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false