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Internet - Fluch oder Segen?: Amazon kann uns mal

Sascha Lobo hält das Internet für kaputt. Kaputt ist jedoch vielmehr das Vertrauen in unsere geistige Selbstständigkeit. Die Welt – und ja, auch das Internet – sind veränderbar

Von Anna Sauerbrey

Heute frisch aus dem Technik-Blog des „Wallstreet Journal“ eine Gruselgeschichte für Erwachsene: Amazon will Ihre Einkäufe in Zukunft schon verschicken, noch bevor Sie sie überhaupt bestellt haben. Ende Dezember hat das Unternehmen in den USA ein entsprechendes Patent angemeldet. Der neue Fernseher macht sich schon auf den Weg, bevor Sie überhaupt wissen, dass Sie ihn wollen.

Meldungen wie diese ergänzen die Enthüllungen über die digitalen Fähigkeiten der Geheimdienste scheinbar perfekt und nähren die große Erzählung von der universellen Kontrollierbarkeit und Steuerbarkeit des Menschen. Auf dem Weg zur Herrschaft der Maschinen über uns und unsere Gedanken wird, so könnte man meinen, gerade die nächste Stufe erklommen. Computer wissen, was wir als Nächstes tun – und verraten es ihren Herrchen in den Schaltzentralen der politischen und ökonomischen Macht. Orwell, Orwell, Orwell, ruft es aus dem Blätterwald.

Das Internet ist kaputt, schrieb zuletzt sogar der Netzerklärer der Nation, Sascha Lobo. Was er, der eingefleischte Technik-Optimist, einmal für das Heilmittel des Weltenelends gehalten hatte, entpuppe sich als Instrument der Machtausübung. Schalten wir also besser ab, solange wir das noch wollen können, ohne dass es jemand merkt?

So berechtigt die Kritik an der Überwachungspraxis und am Datenhorten ist: Die Erzählung von der Allmacht der Algorithmen wird auf absehbare Zeit eine Dystopie bleiben. Nicht das Internet ist kaputt, sondern das Vertrauen in unsere geistige Selbständigkeit.

Zum einen sind die Maschinen dümmer, als ihre Erfinder es sich wünschen. Algorithmen können unsere Gedanken nicht lesen. Sie gaukeln es uns nur vor. Basierend auf Statistiken über das Verhalten der vielen erstellen sie Wahrscheinlichkeitsprognosen. Natürlich weiß Amazon nicht, was Sie als nächstes tun werden. Das Unternehmen kann aber prognostizieren, wie viele Fernseher im Januar im Raum Berlin bestellt werden und entsprechende Ware schon einmal in ein Logistikzentrum in der Nähe schicken. So garantiert es die Lieferung am nächsten Tag, erhöht die verkaufte Stückzahl und es entsteht die Illusion der Vorhersage. In Wahrheit scheitern Maschinen weiterhin an der Komplexität des Menschen, an Spontanität ebenso wie an Semantik. Schon eine Sonnenbrille bringt jede Bilderkennungstechnologie aus dem Konzept. Natürlich lässt sich nicht sicher sagen, wie weit die Super-Computer der NSA den Technologien von Google und Co. überlegen sind – aber selbst der NSA rutschen bekanntlich Terroristen durch das Netz. Gerade die Grobschlächtigkeit der algorithmischen Rasterfahndung ist ja Teil des Problems.

Ein zweiter Grund, der gegen Hysterie spricht, ist die solide Verankerung des Normalbürgers in der Welt außerhalb des Internets. Die „gesellschaftliche Abhängigkeit von der digitalen Sphäre“ sei „total“, schreibt Sascha Lobo und geht dabei wohl zu sehr von sich selbst aus. Kommunikation und Kaufen, Lieben, Leben und Sterben finden weiterhin zu guten Teilen außerhalb des Internets statt und damit jenseits des vermeintlichen digitalen Erfassungs- und Überwachungsapparats.

Drittens ist und bleibt das Internet eine Ermächtigungsmaschine. Als Informationsquelle ist es – zumindest in den westlichen Demokratien – immer noch ein Wunderwerk. Über kein anderes Thema ist im vergangenen Jahr so viel berichtet worden wie über die NSA-Affäre, weitgehend frei und unabhängig. Wenn deshalb keine Regierung gestürzt wurde, dann weil es die Bürger nicht wollten. Und würden Sie sich von Ihrem Kühlschrank sagen lassen, dass es Schoko-Pudding X zum Nachtisch gibt, obwohl Verbraucher-Webseiten abraten?

Sicher besteht zwischen Datenerfassung und Manipulation ein Zusammenhang – aber kein Automatismus. Durch das Schwelgen in der Theorie von der politisch-ökonomischen Weltverschwörung allerdings droht sie zur selbsterfüllenden Prophezeiung zu werden. Denn Unternehmen und Regierungen stricken selbst nur zu gern am Mythos. Google hat längst eine Atmosphäre der Unentrinnbarkeit erzeugt, das fördert die Resignation der Nutzer. Barack Obama prahlt im deutschen Fernsehinterview mit den „Fähigkeiten“ seiner Dienste und leitet daraus „Pflichten“ seines Land für die Weltsicherheit ab.

Die eigentliche Zensur aber findet in den westlichen Ländern bisher in den Köpfen statt. Die internationale Schriftstellervereinigung PEN fragte Ende vergangenen Jahres 500 ihrer amerikanischen Mitglieder, ob sie ihr Verhalten aufgrund ihres Wissens über die Praktiken der Geheimdienste verändert hätten. Rund ein Viertel gab an, am Telefon und in E-Mails Schlüsselbegriffe zu vermeiden. Sicher, die amerikanische Regierung geht zum Teil rigoros gegen investigative Journalisten vor, die ihren Geheimdiensten zu nahe kommen. Am Telefon über die Schlapphüte zu schimpfen, reicht aber noch nicht. Es bleibt dabei: Die Gedanken sind frei. Nutzen wir sie. Die Welt – und ja, auch das Internet – sind veränderbar.

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