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Die Bundesregierung will bis zum Sommer eine digitale Agenda erarbeiten.

© dpa

Internet kaputt!: Das Netz wird entzaubert, das positive Denken ist erschüttert

Die Entzauberung des Internets ist im Gange, als weiteres Desaster des "Positivdenkens", des Glaubens, alles sei gut. Jetzt atmen wir durch - und nutzen das Netz differenzierter.

Ist es erlaubt, jetzt mal tief durchzuatmen? Endlich! Die Entzauberung des Internet ist auf dem Weg! Alle Bitten, bei seiner Bewertung vorsichtig zu sein, haben ja nichts bewirkt. Es war knapp davor, zum Tummelplatz der Übermenschen zu werden, die mit den zurückgebliebenen Altmenschen kaum noch reden wollten: „Alter, du hast keine Ahnung!“ Keine Ahnung wovon? Vom wahren Leben, das ins Netz verlagert worden war.

Aber auf die Ironie der Geschichte ist Verlass: Der Erfolg des Internet kehrt sich gegen seine Propheten. Es ist ein weiteres Desaster des Positivdenkens, wie es schon die Finanzkrise war: Wer immer nur daran glauben will, dass alles gut sei, kann böse Überraschungen erleben. Die Erfahrungen werden dennoch nicht dazu führen, dass allzu viele Menschen die Religion des 21. Jahrhunderts, das Positivdenken, aufzugeben bereit sind.

Am meisten enttäuscht sind natürlich die, die am innigsten geglaubt haben. Sie reagieren nun wie die Kinder: Das Internet ist kaputt! „Mom, Uncle Sam hat mein Spielzeug kaputt gemacht!“ Dabei waren sie nur auf eben diese kindische Weise optimistisch, die die alt gewordene Moderne immer noch stets aufs Neue hervorbringt. Immer wieder erliegen Menschen der großen Märchenerzählung, dass mit dieser Technik, jenem System, einem neuen Präsidenten endlich die beste aller möglichen Welten geschaffen werden kann.

Machen wir uns nichts vor, was die große Überwachung angeht: Die Technik gibt hier den Takt vor. Gemacht wird, was technisch möglich ist. Der Ruf nach dem Staat, der es richten soll, ist zwecklos: Selbst, wenn er wollte, könnte er nicht. Die Politik ist ohne Chance. Das gilt auch für den Ruf nach neuer Technik, die sicherer ist. Die Arbeit daran führt nur zum Wettlauf 2.0, 3.0, 4.0 von Hase und Igel. Glaubt jemand im Ernst, dass er in einem geheimen Winkel des Internet ungestört und unbeobachtet an einem neuen Netz arbeiten kann? Wie lassen sich dabei die aufopferungsvollen Mitstreiter aussortieren, die noch ganz andere Interessen verfolgen?

Bei der totalen Überwachung geht es um ökonomische Interessen

Und machen wir uns auch nichts vor, worum es bei der totalen Überwachung geht: Sicher nicht um Terrorismus. Auch nicht um Politik. Es geht um ökonomische Interessen: „It’s the economy, stupid!“ All die Daten sind unendlich wertvoll, um wirtschaftliche Konkurrenten auszuspähen, frühzeitig von Produktentwicklungen zu erfahren, unliebsame Politiker bloßzustellen, Informationen auf jede Weise zu verwerten und weiterzuverkaufen, auch an Detekteien, die das heimliche Treiben der Ehefrau, des Ehemannes ausspähen.

Und jetzt? Zurück zu den Quellen! Einerseits zu den digitalen Quellcodes, um trotz allem den Versuch zu machen, das Internet neu zu denken, soweit das möglich ist. Irgendetwas Neues wird dabei herauskommen. Andererseits zu den analogen Quellcodes: Was für ein Glück, dass das gute alte Leben nicht restlos verschwunden ist! Wie ging das noch mit dem realen Leben und Lieben und Kommunizieren? Das könnte dabei helfen, einen differenzierteren Gebrauch vom Internet zu machen: Es zu nutzen, wo es nötig ist. Es zu lassen, wo es möglich ist. Lebenskunst ist bewusste Lebensführung, jede und jeder kann sich ein paar Gedanken machen: Wann begebe ich mich ins Netz, wann besser nicht? Muss ich jede App-Spielerei mitmachen? Kann ich das Hotel auch direkt buchen? Und kann ich ablassen von dem Traum, es könne irgendwann ein ideales Leben geben?

Wilhelm Schmid lebt als freier Philosoph in Berlin und lehrt Philosophie als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. Jüngstes Buch: Dem Leben Sinn geben (Suhrkamp). Internetseite: http://www.lebenskunstphilosophie.de/

Wilhelm Schmid

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