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Internet: Lebst du schon oder surfst du noch?

Ein Mausklick, und die Datenflut und die Denkebbe sind vernetzt. Wärme, Hass, Gemeinschaft, Egomanie: Das Internet bietet jedem ein neues Zuhause – ein fragwürdiges.

Lässt sich wirklich schwer vermessen, das Internet. Eine Schätzung der Universität Berkeley sagt, die Menge an weltweit gespeicherten Informationen wachse jährlich um fünf Exabytes an neuen Daten. Wären alle 19 Millionen Medien der Kongressbibliothek in Washington digitalisiert, ergäbe das zehn Terabytes an Daten. Ein Terabyte ist jedoch nur der einmillionste Teil eines Exabytes. Der Speicherraum Internet ist riesiger als jedes Universum, das wir uns denken können. Nicht minder riesig ist seine Anziehungskraft. Jeder zweite Haushalt in Deutschland verfügt über einen Breitbandanschluss, rund 70 Prozent der Bürger sind online. Die Deutschen haben sich abhängig gemacht. Die Technologie als Netztreiber ist in der selbstverständlichen Nutzung längst verschwunden, das Onlinesein hat sich in das Dasein eingewoben. Sobald der PC hüstelt, schüttelt es den Nutzer. Aus dem eigenen Computer gibt es so wenig ein Entrinnen wie aus dem eigenen Körper. Das erfordert eine Strategie des Umgangs.

Die Erfahrung mit dem Netz zeigt, dass es signifikant verteiltes und gemeinsames Wissen gibt. So soll der Bau einer Atombombe via Internet machbar sein. Die allermeisten Nutzer werden davon nichts wissen wollen. Macht nichts, hier wie auf einer Vielzahl von Gebieten meldet sich eine Vielzahl inspirierter Amateure zu Wort, deren fehlende Ahnung mehr als nur kompensiert wird durch die Liebe für das Thema, um das es geht. Das Internet schafft keine unsterblichen Texte, Töne und Bilder, es tradiert nur vorhandene.

Wir sind bei den Bloggern. Früher hieß ihr Instrument „Weblog“, eine Wortkreuzung aus World Wide Web und Log wie „Logbuch“. Heute heißt das „Blog“, ist mal Tagebuch, mal Diskussionsplattform. Ein Blogger ist ein extrovertierter bis extravaganter Mensch, der vieles mit vielen teilt, aber eines für unteilbar hält – seine Meinung. So einzigartig die genetische Struktur eines jeden Menschen ist, so einzigartig ist die Meinungssignatur im binären Code. Da kann die größte Unwissenheit in schiefes Deutsch übersetzt, umgekehrt eine umstürzlerische Erkenntnis in elegantes Parlando verzaubert werden – egal, jede Meinung zählt gleich viel. Wird Eigensinn persönliches Eigentum, geht es ums Ganze. Darum sind Blogger so empfindlich. Sie bekommen einen roten Kopf, wenn andere, sagen wir mal, Blog-Betreiber (notabene Journalisten) ihre Beiträge moderieren und kontrollieren wollen, ehe die Kommentare auf einer Plattform erscheinen und damit justitiabel werden. Da die Moderatoren im Sinne des Presserechts – was positiv gewendet nur Wahrheitsliebe und Comment bedeutet – eine Verantwortung für die Beiträge anderer haben, müssen sie ein feines Gespür für die Unterschiede zwischen einem lebendigen Debattenbeitrag und einer potenziellen Verleumdung entwickeln. Es bedarf eines beachtlichen Fingerspitzengefühls, damit die Redaktion nicht als Zensur verstanden wird. Übrigens wird sie das immer.

Wer einen moderierten Blog betreibt, der wundert sich, dass mancher Kommentar wieder und wieder geschickt wird. Der Absender ist einer Gewohnheit aufgesessen. Bisher war es so, dass sein Kommentar sofort im Blog erschien. Tut er das nicht, erkennt der Meinungshabende auf technischen Lapsus – und sendet staccato. Das Drücken der Löschtaste durch Big Brother lässt den Blogger Zeter und Zensur schreien. Er denkt privat, er handelt interaktiv, er sieht sich als Individuum im Kosmos, er ist ganz sicher, dass das Blogger-Kollektiv gleich in Hallo und Hosianna ausbrechen wird. Es ist wahr, die Zahl der Blogs wächst rasant; wahr ist zudem, Blogs werden gelesen, die Springflut der Kommentare löst eine Sintflut der Kommentare über die Kommentare aus. Die Weisheit der Menschen nimmt nicht in dem Maße zu, wie die Menge an Bloggern wächst. Anders: Wenn der Blog-Wart nichts weiß, dann weiß der Blogger gar nichts. Es ist schlicht erstaunlich, was sich manche Menschen trauen, wenn sie sich in der Anonymität glauben. Pures Ego-Shooting.

Die Zukunft des Internets bestimmt der einzelne Nutzer mit Tastatur und Maus. Großer Satz, vielleicht zu groß mit Blick auf die Maßeinheiten bei den mächtigen Portalen im World Wide Web. Die bei Google, Youtube und Ebay stehen gar nicht erst auf, sofern die Klickzahlen nicht der Erdbevölkerung entsprechen. Wer vom Netz etwas will, der muss dem Netz etwas geben. Das fängt bei der schlichten E-Mail an und muss beim Fragebogen nicht enden. Unendlich viele Steckbriefe schwirren durchs Netz, die Bereitschaft zur medialen Selbstdarstellung bis hin zur Entblößung scheint unendlich. Die Privatsphäre wird bei vollem Bewusstsein zur Besichtigung freigegeben. Der Trick stammt aus der analogen Welt: Offenheit gebiert Offenheit. Die Frage, wer hat sich meine eigene Seite angeschaut, wer interessiert sich für mich, garantiert Kribbeln. Beim Cyber-Narzissmus geht es um eine kollektive Sehnsucht nach Aufmerksamkeit. Je häufiger der eigene Name bei den Suchmaschinen aufscheint, umso wichtiger muss der Namensträger sein. Hier wird das banalste Kriterium für Konkurrenz und Kompetenz gefeiert – Häufigkeit.

Ein Paradoxon wird sichtbar. Die Telefonbücher werden dünner und dünner, weil die Teilnehmer sich gar nicht mehr aufgelistet sehen wollen; umgekehrt schwellen die Ego-Kataloge von A wie Amaretto-Liebhaber bis Z wie Zugfahrer-aus-Leidenschaft an. Kann es verwundern, dass diese Charmeoffensiven Schlechte-Laune-Allergien auslösen? Das Netzwerk-Portal Facebook.com (Quasi–Slogan: Der Netti trifft ’ne Nette) wird mit Enemybook.info (alle meine Lieblingsfeinde) und Hatebook.org (nur gemeinsam hassen ist schöner) gekontert. Das Netz kitzelt gleichermaßen Fieses wie Freundliches heraus. Neonazis und Antifa begegnen sich im Netz häufiger als auf der Straße.

Die sozialen Netzwerke, gut eine halbe Milliarde Menschen sollen sich auf diesen Plattformen registriert haben, offerieren Kontakte, Freundschaften, Wärme. Ja, die Behauptung ist zulässig, dass der Einsame im Netz nicht einsam ist. Wo sonst kann er sich für eine Community neu erfinden? Online wird der Spieler zum Herrscher in der „World of Warcraft“. Der Schüchterne mutiert zum Helden, der Hässliche designt sich schön, wie es bei „Second Life“, dem virtuellen Gegenentwurf zum wirklichen Draußen, besichtigt werden kann. Bei diesen Arrangements mit dem Netz ist Ich endlich ein anderer geworden. Lebst du schon, oder surfst du noch?

Ein PC im heruntergefahrenen Modus ist eine schlimme Versuchung. Ein totes Bildschirmauge fordert heraus. Gar zu gerne wird der Gedanke „Ich könnte noch mal ins Netz gehen“ in die Tat umgesetzt. Es ist eigentlich ungeheuerlich, wie viel Zeit und Energie online verbracht und verschwendet wird. Die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel hat zu Recht festgestellt: „Datenmenge und Gedankenmenge verhalten sich nicht proportional zueinander.“ Ein Mausklick, und die Datenflut und die Denkebbe sind online vernetzt.

Tom O’Reilly kann zufrieden sein. Der amerikanische Verleger für Computerbücher hat, als er 2004 einen sexy Titel für eine Entwicklerkonferenz suchte, den Begriff vom „Web 2.0“ kreiert. Ein unübersehbares Signal sollte gegeben werden, dass die Ära der aktiven Internetnutzung begonnen habe. Vorbei die Zeit des passiven Surfens von Homepage zu Homepage, passé das Web 1.0, das nur Computer miteinander verbunden habe. Mit der gesteigerten Versionsnummer sei die nächsthöhere Stufe erreicht – das Web 2.0 bringe Menschen zusammen. Mag auch Web 1.0 nichts anderes im Sinn gehabt haben, mit O’Reillys Signum wurde die frustrierende Vergangenheit der ersten, mit großem Peng geplatzten Internetblase bewältigt.

Die Adressaten haben verstanden: Abzocker, Pädophile, Weltverschwörer, Schamanen, Business People, Geistesriesen, Wikipedianer, Menschheitsliebhaber, selbstverliebte Video-Blogger à la Matthias Matussek. Braucht das Internet deswegen seine eigene Polizei? Nein, der Schupo ist bereits online. Unübersehbar, wie sehr sich das reale Leben und seine Spielregeln in Virtualien breitmachen. Das Internet wird dem täglichen Leben ähnlicher als das tägliche Leben dem Internet. Der Pädophile wird hier wie dort gejagt, Altkanzler Gerhard Schröder mahnt heute einen Weblog ab, wie er gegen missliebige Printmedien geklagt hat, die Kommerzialisierung jener Angebote, die außerhalb der Onlinesphäre längst Geld kosten, nimmt zu.

Die am schnellsten wachsende Textsorte im Netz sind die AGBs, die Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Wo mehr als zwei Nutzer sich zusammenfinden, da ruft der Profiteur auch schon: „Ick bün al dor.“ In der Regel wird der Nutzer als Klicker für Bannerwerbung und andere Lockangebote benutzt. So wenig, wie das private Fernsehen nichts kostet, so wenig kostet Google nichts. Der vielbeschworene Nutzer ist mittlerweile der ahnungslose bis mündige Kunde geworden, dem die Rechnung seines Tuns über mittelbare, unsichtbare Kanäle ausgestellt wird. Eine Welt- Geld-Onlinegesellschaft hat sich etabliert.

War das Internet je anarchisch, basisdemokratisch bis in die Graswurzel hinein? Dezentral war und ist das Netz. Als Summe seiner Nutzer, ihrer Eingaben und ihrer Energien, sind die Fliehkräfte gewaltig; trotzdem, so argumentiert der Realist, sei das Netz von allgemeinem und individuellem Nutzen, während der Optimist gar schwelgt, es sei integrativ. Der Pessimist sieht sowieso schwarz. Die Wahrheit liegt irgendwo in diesem Dreieck, wo genau, mag der Nutzer selbst bestimmen.

Das Netz rockt, die Guten wie die Bösen, die Schlauen wie die Blöden. Ob zwei oder 200 000, die Onlinebewegung schafft Gesellschaft und Gemeinschaft. Im Internet verabreden sich Dutzende Berliner zu spontanen „Flash Mobs“ im Hauptbahnhof, der italienische Beppo Grillo blogt zehntausende Landsleute auf die Straße zum Protest gegen die herrschende politische Klasse. Peter Oakley, ein britischer Rentner von 79 Jahren, bringt es mit seinen „Telling it all“-Videos zu einer Fangemeinde bei Youtube, dass Johannes B. Kerner „Geriatric 1927“ zum „Jahresrückblick 2007“ ins ZDF einlädt. Ein digitaler Star wird analog.

Der Nutzer kann den Pegel der Daten weiter anschwellen lassen, zugleich kann er seine Surfareale eingrenzen. Selektion trifft auf Partizipation. Technologie und Fingerfertigkeit erlauben es, auf einer Seite verschiedene Datenquellen und Programme miteinander zu kombinieren. Alles, was ihnen interessant und spannend erscheint, kleben Nutzer einfach zusammen. Das Web wird zum Mitmach-Web. Wer sagt, das Internet mache keinen Spaß, der ist nur eine Spaßbremse.

Hinter Interessen, Initiativen und Interaktionen verbergen sich zunehmend Geschäftsmodelle und vernetzte Kundenbeziehungen. Das Geben korrespondiert mit dem Nehmen. Die einstigen Web-Entrepreneure sind die Web-2.0-Kapitalisten von heute. Wer anderes will, der muss sich Richtung Web 3.0, 4.0, 5.0 aufmachen. Aufbrechen in ferne Galaxien, Avantgarde sein.

Die anderen bleiben erst einmal da. Da sie ohne Internet nicht mehr leben wollen und können, müssen sie einen Weg finden, die Risiken und Nebenwirkungen möglichst gering zu halten. Wie sie das machen und schaffen, darüber müssen sie öffentlich diskutieren; auch das ist ein Akt der Selbstverantwortung und der Selbstvergewisserung. Ironischerweise bietet sich dafür das Internet und insbesondere der Blog als Medium an.

Morgen ist Weihnachten, so muss dieser Schluss erlaubt sein. Im Martin-Gropius-Bau wird die Ausstellung „Vom Funken zum Pixel“ gezeigt. In Saal 1 findet sich ein Werk von Nam June Paik aus dem Jahr 1975. Die Arbeit dieses wahren Champions unter den Videokünstlern heißt „Candle TV“. Sie besteht aus nicht mehr und nicht weniger als einem Fernsehgerät, dessen Innereien komplett entfernt worden sind. Dafür hat Nam June Paik eine brennende Kerze in den Bildschirm gestellt. Leeres Gehäuse//Neue Inhalte.

Der Saal im Gropiusbau ist abgedunkelt, der Besucher schaut der Kerze beim Flackern zu, es wird ihm warm ums Herz. Wenn mit dem Fernsehen ein Friedensschluss möglich war, dann muss er auch mit dem Internet möglich sein. Weil’s mit den Utopien von jetzt auf gleich so schwierig ist, hier nur eine winzige Idee: Das Internet darf das Vergessen lernen. Die Exabytes bekämen ein menschliches Maß.

Ein Kommentar von Joachim Huber

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