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Internet und soziale Kontrolle: Wir sind ein Volk von Zensoren

Shitstorm und Falschparker-App: Im Netz kann jeder ein kleiner „Big Brother“ werden. Ein Plädoyer gegen den digitalen Denunzianten.

Im Jahre 1750 musste Jean-Jacques Rousseau die Frage, ob Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen hätten, noch glatt verneinen. Heute allerdings könnte ein auferstandener Rousseau seine Skepsis ablegen und meinen, dass digitale Techniken und Netz-Kulturen unseren Anstandsgefühlen neuen Schwung verliehen haben. Geht nicht von den Shitstorms, dem Geschenk des Netzes und der Social Media, eine großartige reinigende Wirkung aus? Beseelt nicht die Betriebe neuer Mut, seit man auf eigens dafür eingerichteten „Hinweisgeber-Portalen“ faule oder gar korrupte Kollegen anonym verpfeifen kann? Und haben uns nicht eben kluge Erfinder moralisch aufgerüstet und die Falschparker-App an die Hand gegeben? Jetzt können wir allen Sozialschädlingen eine Lektion erteilen, die ihre Fahrzeuge vor Einfahrten oder auf Fahrradwegen abstellen.

Und es locken weitere Verbesserungen: Wann kommt die Staatsanwalts-App, die uns den umständlichen Weg über polizeiliche Ermittlungen erspart, wenn wir Verdacht schöpfen? Und wäre es nicht an der Zeit für eine Fingerabdrucks-App, dass wir den auf frischer Tat ertappten Ladendieb gleich an den Zentralcomputer des BKA melden können? Noch besser wäre eine DNA-App, die auf der Stelle eine Speichelprobe analysiert, wenn wir einem Kinderschänder auf die Schliche gekommen sind. Dann genügt die Aufforderung: „Würden Sie bitte auf das Display meines Smartphones spucken?“ In den USA sorgen bereits High-Tech-Lügendetektoren auf der Basis der Kernspinresonanz für die Lösung des alten Problems von Wahrheit und Lüge, das Priester, Philosophen, Scharfrichter und Konsumenten so lange um den Schlaf gebracht hat. Wie leicht ließe sich etwa den betrügerischen Altwagen-Verkäufern das Handwerk legen, wenn wir, aufgerüstet mit unserer MRT-App, den dubiosen Händler demnächst fragen: „Darf ich, um sicherzugehen, rasch ein Scan ihres präfrontalen Kortex machen?“

An der Schwelle zur umfassenden Denunziations-Technologie

Noch stehen wir an der Schwelle zur umfassenden Denunziations-Technologie. Doch die Frist bis dorthin wollen wir nutzen, um über den Sinn dieser Programme, die ins moralische Utopia führen sollen, nachzudenken. Tatsächlich hatte der große Thomas Morus 1516 in seiner Schrift über den utopischen Staat mit der vollkommenen Sichtbarkeit aller sozialen Handlungen den Grund für das Glück der Utopianer gelegt. Im 16. Jahrhundert ging das noch nicht anders. Um 1790 erfand Jeremy Bentham das Panoptikum, ein architektonisches Arrangement, das die Leute in Betrieben, Gefängnissen, Schulen unter andauernde Kontrolle bringen sollte. Davon versprach auch er sich eine dauerhafte bessernde Wirkung. Damals ging niemand auf Benthams Pläne ein. Doch heute möchte die Armee der Überwachungskameras Frieden und Anstand auf den Straßen der ganzen Welt sichern.

Das neue Utopia verdanken wir dem technischen Fortschritt. Gemäß der bekannten Formel Marshall McLuhans dienen Medien als Technoprothesen des Körpers und als Erweiterungen der Sinnesorgane: Das Radio trägt unsere Ohren in alle Welt, das TV gibt unseren Augen Flügel, in digitale Speicher exportieren wir unsere Gedächtnisse etc. Die Entwicklung der Denunziations- Technologie hingegen verschafft den moralischen Organen Prothesen. Unserem sittlichen Feinempfinden sind so die Mittel an die Hand gegeben, die wir uns schon immer wünschten: dem Raser auf der Autobahn sofort die Strafpunkte in Flensburg verpassen, dem Schwarzarbeiter nebenan den Strafbefehl aufs Handy senden, dem Päderasten im Internet gleich den Trojaner installieren, der seinen Rechner durchprüft.

Moralisten erweisen sich häufig als parteiliche Verfechter der guten Sitten

Aber ist unserem moralischen Feinempfinden wirklich zu trauen? Das moralische Urteil kommt, wie wir wissen, gerne in der Gestalt eines Affektes zur Geltung. Es ist die Empörung. Aber die Empörung arbeitet nicht sehr gründlich und schwankt unter den Bedingungen von Raum und Zeit. Die Entrüstung verdankt sich zwar den Medienprothesen, doch sie lässt sich von den Medien nicht überallhin zum Einsatz rufen. Die sittliche Erregung ereifert sich lokal. Denn der Steuersünder oder Vergewaltiger jenseits der Landesgrenzen kann mit unserem Schulterzucken rechnen. Dabei wollte Kants kategorischer Imperativ den aufgeklärten Bürger einmal dazu anhalten, seine sittlichen Grundsätze auf die gesamte Menschheit auszurichten. Aber schon der korrupte Bürgermeister in der Nachbarstadt muss sich vor unserem Wutanfall nicht mehr fürchten. Weitere Fragen schließen sich an: Sind eigentlich nur wir moralisch? Haben die Leute, die ihr Geld in fernen Banken steuergeschützt deponieren, die illegal Filme herunterladen oder gar Schwarzarbeiter beschäftigen, keine moralischen Grundsätze? Ist die Empörung der Personen, die selbst gegen die von ihnen vertretenen Prinzipien verstoßen, nur gespielt? Allzu häufig erweisen sich Moralisten als parteiliche Verfechter der guten Sitten und als Sprecher mit gespaltener Zunge. Sowohl Uli Hoeneß als auch Sebastian Edathy oder der ehemalige Limburger Bischof Tebartz-van Elst, denen wir die letzten Medienempörungen verdanken, waren strenge Richter in Angelegenheiten des Sports, der politischen Korrektheit oder der religiösen Regeltreue. Aber das gilt nicht nur für sie.

Gleich ob nun aus den Abgründen der elektronischen Fahndung Steuersünder oder Bezieher von Kinderpornografie in die Empörungsarena gescheucht werden, es sind Leute aus den so genannten besten bürgerlichen Kreisen, auf deren Schultern unser Gemeinwesen ruht und denen man einigen Anstand zutraut. Der Philosoph Max Scheler hat diese Paradoxie um 1910 auf eine geistreiche Weise gelöst. Die Frage, wie gerade er, ein anerkannter Autor ethiktheoretischer Schriften, eine skandalöse Affäre mit einer verheirateten Frau haben konnte, beantwortete er sinngemäß: „Haben Sie schon einmal einen Wegweiser gesehen, der auch in die Richtung geht, die er anzeigt?“ In der Tat: Wir Moralisten fremder Übeltaten arbeiten alle als verlässliche Navigationsgeräte, aber genau wie Susi oder Alexander, deren Stimmen uns aus den Navis so genaue Anweisungen erteilen, sind wir nie dort gewesen, wo wir die anderen hinschicken. Und wir vergessen auch schnell, wo wir einmal waren. Auf seltsame Weise erblasst die Empörungsröte auf unserer Stirn, wenn den von uns denunzierten Tätern der Prozess gemacht worden ist. Ist die Genugtuung über die Bestrafung dieser Leute eigentlich ein moralischer Affekt?

„Aus der dauernden Übung einer Verstellung entsteht zuletzt Natur“

Niemand hat eindringlicher und kritischer über die Herkunft der moralischen Empfindungen nachgedacht als Friedrich Nietzsche. Dabei gelangte er in der „Morgenröthe“ von 1881 zu der Einsicht, dass moralische Haltungen nur aus langjähriger Verstellung hervorgehen: „Aus der dauernden Übung einer Verstellung entsteht zuletzt Natur.“ Tausendmal mahnen wir unsere lieben Kleinen, sie sollten „danke!“ sagen, doch erst nach weiteren tausend Ermahnungen klingt ihre Danksagung halbwegs echt. Unsere moralischen Affekte sind künstliche Früchte im Garten der Heuchelei, und daher kommt ihre Intoleranz und lokale Beschränktheit. Trotz der zweifelhaften Herkunft unserer moralischen Grundsätze halten wir jedoch mit guten Gründen daran fest, dass Verbrechen bestraft, Korruption bekämpft, sexueller Missbrauch geahndet, Steuerhinterziehung unmöglich gemacht werde. Aber wie? Wollen wir das Amt des Riesen Argus, der mit hundert Augen und schlaflos sein Reich überwachte, an die vielen Millionen Rechner und Mobilgeräte übertragen und das vierwöchige TV-Fest „Aktenzeichen XY … ungelöst“ Tag und Nacht laufen lassen?

Der römische Magistrat kannte das Amt des Zensors. Die kollegial geführte Behörde war für die Erhebung von Steuern zuständig, zugleich wachten die Zensoren über die Moral vor allem der Senatoren und Staatsbeamten. Der seiner Strenge wegen berühmte Zensor Cato soll nach dem Zeugnis Plutarchs einen Mann namens Manilius seines Amtes als Senator enthoben haben, weil er seine Frau unter den Augen der Tochter geküsst hatte. Modern gesprochen, waren es Geld und Sex, die diese Behörde verwaltete. Kein Zweifel, von beidem gibt es auch heute noch ziemlich viel. Und so scheint es naheliegend, das Amt des Zensors zu demokratisieren. Jeder darf Cato spielen. So wäre die Orwellsche Schreckensvorstellung des einen Big Brother, der alle überwacht, gebannt, und alle Menschen, wie es Schiller in der Ode an die Freude geträumt hat, können Big Brothers werden.

Nun haben allerdings Behörden und Unternehmen mit ihren Whistleblower-Seiten, den „Hinweisgeber-Portalen“, bislang wenig Freude gehabt. Vor einem guten halben Jahr scheiterte vor einem Oberverwaltungsgericht im Bundesland Niedersachsen ein Mann, der in den Jahren zuvor rund 20 000 Falschparker bei den Behörden angezeigt hatte. Die Richter bescheinigten dem Super- Cato, dass er ein Denunziant ist. Doch gerade die Landesregierung von Niedersachsen hat sich viel von einem Pilotversuch mit dem so genannten Business-Keeper-Monitoring-System (BKMS) versprochen, das anonyme Anzeigen entgegennimmt. Inzwischen hat ein Forschungsteam der Universität Bielefeld 410 anonyme BKMS-Meldungen, die Ernte eines guten Jahres, analysiert. Knapp die Hälfte dieser Anzeigen wurde gleich als unbrauchbar ausgesondert, über den Rest erfolgten weitere Ermittlungen. 166 Vorgänge gelangten auf die Tische der Staatsanwälte. Am Ende erhob der Staat in einem einzigen Verfahren eine Anklage, und in nur einem weiteren Fall gab es einen Strafbefehl. Eine erneute Evaluation durch die kriminologische Forschungsstelle des Landeskriminalamtes gelangte zu einem analogen Ergebnis. Über die Erfolge anderer Unternehmen, die sich von den Denunziations-Portalen eine effektive Bekämpfung der Korruption und Wirtschaftskriminalität erhofft haben, vernimmt man keine Erfolgsnachrichten.

Hinter solcher Denunziations-Software steckt eine zeitgenössische Verwaltungsutopie, nämlich der Traum einer „Realtime Control“, die das Soziale über die in Echtzeit einlaufenden Daten und Informationen steuert. Denken wir allerdings an die moralische Erregungsqualität, so ist ihr Echtzeitpegel zwar hoch, aber nach einer Viertelstunde haben wir auf der Autobahn den Raser, den wir eben noch gerne dem Henker übergeben wollten, bereits wieder vergessen. Die Sozialkybernetiker, die zur Optimierung der Gerechtigkeit neue Algorithmen entwickeln, haben keine rechte Vorstellung von der moralischen Macht Zeit. Die Trägheit der Verwaltung, die langsamen Mühlen der Gerechtigkeit, den zähen Prozess des Politischen sollten wir nicht verdammen. Wenn irgendwo der Messias wohnt, dann in der Verzögerung.

Das Denunziantentum der „lettres de cachet“

Das Rechtssystem eines Staates, der auf Gewaltenteilung beruht, benötigt entschlossene Staatsanwälte, unabhängige Richter, gewissenhafte Zeugen und couragierte Kronzeugen. Es benötigt Bürger, die den Mut haben, Vergehen, Missstände, Übergriffe den Ordnungskräften und Gerichten anzuzeigen. Aber auf keinen Fall anonym! In einem schmerzlichen Prozess, dessen Opfer unsere Dankbarkeit verdienen, hat sich die moderne Gesellschaft auf dem Weg zur Demokratie den Raum der Öffentlichkeit erschlossen, wo Angeklagte und Ankläger unter den Augen der Bürger erscheinen. Dahinter gibt es kein Zurück.

Manfred Schneider ist Professor für Neugermanistik, Ästhetik und literarische Medien and der Ruhr-Universität Bochum.
Manfred Schneider ist Professor für Neugermanistik, Ästhetik und literarische Medien and der Ruhr-Universität Bochum.

© privat

Die Französische Revolution hat seinerzeit die sogenannten „lettres de cachet“ abgeschafft. Diese unter königlichem Namen gesiegelten Briefe waren ein ebenso übles wie effektives Herrschaftsinstrument. Sie dienten zur raschen Inhaftierung einer missliebigen Person, die von Eheleuten, Familien, Nachbarn, Herrschaften denunziert worden waren. Die „lettres de cachet“ ersparten dem Ordnungswillen die umständliche gerichtliche Prozedur. Haben diese Briefe nicht auch Konflikte gelöst, üble Dinge vermieden, Treue und Frieden gesichert? Wollten nicht auch damals alle Beteiligten nur das Beste?

Keine noch so schöne Technik soll uns diese Abscheulichkeiten zurückgeben. Wir müssen mit aller Entschiedenheit verhindern, dass uns der falsche Glanz neuer technischer Denunziationsprothesen solche Ungeheuer der Vergangenheit zurückgibt. Die demokratische Gesellschaft benötigt keine vierte Gewalt in Gestalt automatisierter Moral und Gerechtigkeit: Der anonyme Denunziant ist eine von der Geschichte gottlob ausgespiene verächtliche Gestalt.

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