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Geschwister mit vier Kindern: Patrick S. und seine Schwester hier im Jahr 2006.

© dpa

Inzest vor Gericht: Liebe und Tabu

Der Inzest ist ein in unserer Gesellschaft tief verankertes Tabu. Und es ist, wenn es um bestimmte Waffen, Technologien, Wissen oder Wertveränderungen geht, noch immer die Frage, ob unsere Gesellschaft ohne letzte Tabus überhaupt existieren kann.

Menschenrechte sind eigentlich nicht teilbar. Sie gelten für alle Menschen, gleich welcher Nation und welchen politischen und kulturellen Rechtskreises. Trotzdem hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg in seinem Urteil zum deutschen Inzestverbot mehrerlei Maß anerkannt. Geklagt hatte ein heute 35-jähriger Mann aus Sachsen, der mit seiner sieben Jahre jüngeren Schwester als Liebespaar in beiderseitigem Einverständnis vier Kinder gezeugt hatte. Die deutschen Gerichte hatten den Mann zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, und die Kinder wurden ihm und bis auf die jüngste Tochter auch der Mutter genommen.

Tatsächlich steht der Geschwisterinzest, zumal unter Erwachsenen, in zahlreichen EU-Staaten und auch in Ländern wie der Türkei, Japan oder Brasilien und Argentinien nicht unter Strafe. Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil anerkannt, dass die von ihm gebilligte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2008 im vorliegenden Fall in die menschenrechtlich geschützte Sphäre der sexuellen Selbstbestimmung eingreife. Gleichwohl gebe es unterschiedliche Auffassungen in Europa und das deutsche Recht sei von akzeptablen Gründen getragen, da es seinerseits hochwertige Rechtsgüter zu schützen suche. Straßburg wäscht sich so ein wenig den Pelz, aber macht ihn nicht nass.

Das Thema ist juristisch und kulturell aufgeladen. Inzest spielt seit Adam und Eva, seit dem Götter- und Geschwisterpaar Zeus und Hera biblisch und mythologisch eine starke Rolle. Dynastien beruhten auf Verwandtenheirat, Ödipus bezeichnet eine familiäre Tragödie und einen Komplex, die geschwisterliche Wälsungenliebe lässt Wagner besingen und Thomas Mann hat sie eindringlich beschrieben. Tatsächlich waren auch die beiden jungen Leute in Sachsen ein tragisches Paar, das, getrennt aufgewachsen, von der eigenen familiären Beziehung erst spät erfahren hat. Das Strafrecht ist da gewiss die schlechteste Therapie, und die Justiz hat im konkreten Fall kalt und klar versagt. Hier hatte kein übergriffiger Bruder die kleine Schwester verführt.

Der Bundesverfassungsrichter Winfried Hassemer sagte in seiner dissenting vote zum Urteil 2008, man postuliere einen Tatbestand ohne Täter und ohne Opfer. Das deutsche Sittenrecht schütze heute weder die – durch ganz andere Sitten oder Unsitten gefährdete – Familie noch die Gesundheit der Nachkommen. Bei Inzest besteht zwar ein höheres Risiko von Erbkrankheiten und Behinderungen. Aber Sex zwischen vorbelasteten Partnern ist auch sonst kein Fall für die Strafjustiz – und beim Geschwisterverkehr ist einzig und allein der heterosexuelle vaginale Beischlaf verboten, selbst mit Verhütungsmitteln. Dagegen wäre eine künstliche Befruchtung straffrei. Logisch oder nur moralisch wirkt das nicht.

Kritiker wie der Berliner Grüne und Rechtsanwalt Hans-Christian Ströbele fordern nun eine Strafrechtsreform. Sie verweisen auf andere Staaten und auf das rassistische und eugenische Unrecht, das in der NS-Zeit mit dem Verdikt der „Blutschande“ angerichtet wurde. Trotzdem bleibt ein doppeltes Missbehagen. Es berühren die seltenen Fälle der Geschwisterliebe gewiss auch Menschenrechte. Aber: Der Inzest ist vor allem ein menschheitsgeschichtliches, jenseits von modernen Moraldebatten tief verankertes Tabu. Und es ist, wenn es um bestimmte Waffen, Technologien, Wissen oder Wertveränderungen geht, noch immer die Frage, ob eine menschliche Gesellschaft ohne letzte Tabus überhaupt existieren kann.

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