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Meinung: Islamisten leben nicht von Ideologie allein

Hamas hat schon bewiesen, auch pragmatisch sein zu können. Deshalb sollte der Westen nicht auf Maximalforderungen bestehen

Der absolute Wahlsieg der palästinensischen Islamistenorganisation Hamas hat Israel, die EU und die USA vor ein Dilemma gestellt: Wie sollen sie mit der demokratisch gewählten Palästinenser-Regierung unter der Führung von Hamas umgehen – haben sie die Organisation doch als „terroristisch“ eingestuft.

Für Israel ist der Fall klar: Kein Kontakt, solange Hamas die Existenz Israels nicht anerkennt, seine Miliz nicht auflöst und seine Charta nicht ändert, in der das gesamte historische Palästina als Territorium für einen islamischen Staat gefordert wird. Noch bevor die neue Regierung ihr Amt antritt, blockiert Israel die monatliche Überweisung der palästinensischen Steuer- und Zolleinnahmen im Wert von 50 Millionen Dollar.

Das internationale „Quartett“ tut sich etwas schwerer, weil es den wirtschaftlichen Zusammenbruch der besetzten Gebiete fürchtet: Die EU ist der größte Geldgeber der von äußerer Hilfe abhängigen Palästinenser mit jährlich etwa 500 Millionen Euro. Doch auch das Quartett droht mit der Einstellung der Zahlungen, sollte Hamas Israel nicht anerkennen, der Gewalt abschwören und alle Abkommen zwischen Israel und der Autonomiebehörde anerkennen.

Hamas ist bisher nicht auf diese Forderungen eingegangen, hat nur selektiv Bewegungsbereitschaft signalisiert. Die Anerkennung Israels scheint derzeit völlig ausgeschlossen. Dennoch gibt es für die Europäer und die USA gute Gründe, ihre maximalen Forderungen herunterzuschrauben und der neuen Hamas-Regierung eine Chance zu geben.

Die pragmatischen Gründe liegen auf der Hand: Bliebe das Geld ganz aus, ist der Zusammenbruch der Autonomiebehörde nur eine Frage der Zeit, und die Rückkehr von Hamas zum vollen bewaffneten Kampf ebenso. Eine Studie der Weltbank zeigt nach Angaben der New York Times, dass bei einer Verringerung der Hilfe das Einkommen der Palästinenser um 30 Prozent sinken würde. Die Arbeitslosigkeit würde auf fast 40 Prozent und der Bevölkerungsanteil, der unter der Armutsgrenze lebt, auf 67 Prozent steigen. Die Palästinenser würden den Westen und seine Boykottpolitik dafür verantwortlich machen – und nicht Hamas, wie sich das einige amerikanische und israelische Politiker denken. Damit würde auch die Kluft zwischen der islamischen Welt und dem Westen weiter aufreißen. Denn die arabische Welt beobachtet sehr genau, wie der Westen, mit einer unliebsamen, aber demokratisch gewählten Regierung in Palästina umgeht.

Das Experiment Hamas strahlt weit über Palästina hinaus in eine Region, in der die Islamisten auf dem parlamentarischen Vormarsch sind. Die Glaubwürdigkeit der USA in der Region ist bereits verloren. In der drohenden Polarisierung müssen die Europäer aufpassen, dass sie ihre nicht auch verlieren. Nicht zuletzt sollte der Westen verhindern, dass Geldgeber wie Saudi-Arabien oder Iran einspringen. In dieser neuen Abhängigkeit wäre es äußerst unwahrscheinlich, dass Hamas sich mäßigt.

Eine an bescheidenere, aber realistischere Forderungen gebundene Kooperation mit einer Hamas-geführten Regierung wäre kein Einknicken des Westens, sondern eine Neuorientierung im so genannten Kampf gegen den Terror. Gerechtfertigt durch die Aussicht, Hamas durch Einbindung zu mäßigen. Diese Chance besteht durchaus – die Bewegung hat ihre Wandlungsfähigkeit und ihren politischen Pragmatismus in der Vergangenheit unter Beweis gestellt. Wenn das Experiment, eine Bewegung mit einem bewaffneten Arm durch die Teilhabe an der Macht zu mäßigen und zu demokratisieren, misslingt, kann die Welt jederzeit den Geldhahn zudrehen. Doch damit dieses Experiment Erfolgsaussichten hat, muss Israel auf Provokationen wie den Überfall auf das palästinensische Gefängnis in Jericho verzichten.

Dieser Ansatz basiert darauf, dass Hamas mit dem Begriff Terrorgruppe nicht völlig erfasst wird. Ihr militärischer Flügel verübte seit 1994 Anschläge auf Zivilisten in Israel, die das Etikett rechtfertigen. Aber wenn es Hamas politisch nicht mehr opportun erscheint, was in der Regierungsverantwortung möglicherweise der Fall wäre, kann sie diese Aktionen einstellen. Denn Hamas passte sich – selbst ideologisch – immer wieder an neue Realitäten an. Und dies teilweise mit überraschender Leichtigkeit. So basiert Hamas’ Ideologie – wie die vieler islamistischer Gruppen – zwar in weiten Teilen auf dem Werk des Vordenkers der ägyptischen Muslimbrüder, Sayyed Qutb. Doch hat Hamas den westlichen Nationalismusgedanken prominent in ihre Ideologie aufgenommen. Dieser wurde als „Teil des islamischen Glaubens“ deklariert.

Dies war im konkreten politischen Kampf gegen die israelische Besatzung notwendig, stellt aber eine absolute ideologische Abkehr vom traditionellen islamischen Denken und dem Sayyed Qutbs dar. Zudem fordert Hamas Demokratie und kritisiert die arabischen Machthaber als „Diktatoren“ – sie stellt den Volkswillen als höchste politische Instanz dar. Damit weicht Hamas deutlich vom radikalen islamistischen Denken ab, in dem alle Souveränität bei Gott und nicht beim Wähler liegt. Dieser Ansatz unterscheidet Hamas unter anderem von Terrorgruppen wie Al Qaida. Die Kluft zwischen beiden Organisationen machte der Bin-Laden-Stellvertreter Aiman Sawahiri in seiner Videobotschaft an Hamas deutlich, in der er deren Teilnahme an den Wahlen kritisierte. Diese Unterschiede sollte der Westen im Auge haben. Die stetige Politisierung von Hamas wird über die Jahre deutlich. Waren bei der Gründung noch ein Großteil der Äußerungen religiös verbrämt, so dominieren bei der Kritik am Friedensschluss zwischen PLO und Israel die politischen und wirtschaftlichen Argumente – teilweise die gleichen, welche anerkannte säkulare Kritiker wie der Literaturprofessor Edward Said oder die Grande Dame der palästinensischen Politik, Hanan Aschrawi, vorbrachten. Hamas lehnt die Teilnahme an den Parlamentswahlen 1996 ab, weil die Autonomiebehörde aus dem kritisierten Oslo-Abkommen hervorgegangen ist. Dennoch kooperiert Hamas pragmatisch, nimmt schließlich 2005 an Kommunalwahlen und zuletzt am 26. Januar an den zweiten Wahlen zum Parlament teil. Dies bedeutet nicht explizit die Anerkennung der Zwei-Staaten-Lösung. Aber es ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Umwandlung in eine rein politische Partei.

Damit liegt Hamas im Trend. Auch die einst gewaltbereiten Muslimbrüder sind in Ägypten gerade en masse ins Parlament eingezogen. Noch ähnlicher liegt jedoch der Fall der libanesischen Hisbollah, die zwar an ihrer Miliz und ihrer scharfen Rhetorik gegen Israel festhält, sich aber an der Grenze pragmatisch und relativ ruhig verhält und mittlerweile den ersten Minister stellt. Unverändert ist jedoch das Mithaq, das Gründungsdokument von Hamas. Die Charta wurde 1987 beim Ausbruch der ersten Intifada formuliert: Gegen einen übermächtigen Gegner, der die nationale Identität des Gegners leugnet, führen die Islamisten schweres ideologisches Geschütz auf: Palästina sei ein Waqf, eine religiöse Stiftung der Gemeinschaft aller Muslime. Und der einmal von Muslimen beherrschte Boden dürfe auch in Zukunft nur von Muslimen regiert werden.

In dem Entwurf eines Regierungsprogramms, das Hamas letzte Woche den palästinensischen Fraktionen zukommen ließ, klingt dies etwas anders. Dort heißt es, über die Anerkennung Israels dürfe keine Fraktion allein entscheiden, sondern die „palästinensische Bevölkerung“. Das hört sich an wie die Forderung nach einem Volksentscheid. Und wenn man den Umfragen glauben darf – auch wenn sie bei den Voraussagen für das Wahlergebnis versagt haben –, dann sind laut dem Zentrum für Politik- und Umfragenforschung in Ramallah (PCPSR) drei Viertel aller Palästinenser für eine Zwei-Staaten-Lösung.

Damit steht Hamas, deren Stärke ihre Nähe zur Bevölkerung ist, unter wirksamerem Druck als dem, den der Westen aufbauen kann. Die Bevölkerung gab Hamas kein Regierungsmandat, um Israel zu zerstören, sondern um die Korruption in der Autonomiebehörde zu beenden und transparente Verhältnisse zu schaffen. Zwei Drittel der Wähler geben dies als Grund für ihre Wahl von Hamas an. Die Islamisten mit dem Ruf der „Saubermänner“ müssen nun den Beweis antreten, dass ihre Ankündigungen in der Opposition keine leere Rhetorik war.

Ihre Glaubwürdigkeit bei den Palästinensern steht auf dem Spiel. Dazu braucht sie Ruhe und keine Eskalation der Gewalt. Dies ist ein weiterer Grund, warum Hamas ihren militanten Flügel wohl im Zaun halten wird. Und langfristig wird Hamas kaum aus dem Reigen der arabischen Länder ausbrechen, welche 2002 Israel die Anerkennung angeboten haben, wenn der jüdische Staat im Gegenzug alle völkerrechtswidrig besetzten Gebiete räumt – sich also auf die Grenzen von vor 1967 zurückzieht.

Ob Hamas kurzfristig die militanten Al-Qassam-Brigaden abschafft und seine Gründungscharta ändert, ist jedoch fraglich. Die Anerkennung Israels scheint derzeit ausgeschlossen. Obwohl Hamas-Aktivisten in Gesprächen oft deutlich machen, dass sie längst von einem Palästina in den Grenzen von 1967 sprechen. Die Gründe dafür sind taktischer und strategischer Art. Einmal glaubt nicht nur Hamas, dass Israel sich nach fast 30-jähriger Besatzung zum Abzug aus Gaza entschloss, weil die Kosten für die Besatzung zu hoch waren.

Zudem will Hamas nach eigenen Angaben nicht den gleichen Fehler machen wie die PLO, die für ihre Anerkennung Israels keine reziproke Anerkennung eines palästinensischen Staates in den Grenzen der 1967 eroberten Gebiete erhielt. 13 Jahre nach dem Friedensschluss sind die Palästinenser davon weiter entfernt als zuvor: Israel hat inzwischen völkerrechtswidrig große Teile palästinensischen Territoriums besiedelt. Wie die Siedlung Ariel mit ihren 240 000 Bewohnern, die der amtierende israelische Premier Olmert im Falle eines Wahlsieges annektieren will. Im gleichem Atemzug mit dieser Ankündigung hat Olmert diese Woche einen Zeitpunkt genannt, zu dem Israel seine Landesgrenzen endgültig definieren will: Im Jahr 2010. Damit stärkt er allerdings das Argument von Hamas, dass sie Israel nicht anerkenne, weil dessen Grenzen bisher nicht festgelegt seien. Die Anerkennung Israels ist der Trumpf von Hamas, den sie nicht ohne substantielle Gegenleistung aus der Hand geben wird.

„Teetrinken im Weißen Haus ist Hamas und ihren Anhängern nicht so wichtig“, meint der angesehene politische Kommentator Rami Khouri. Er glaubt dennoch, dass Hamas Kompromisse und politische Konzessionen auch mit Israel machen wird – unter drei Bedingungen: Wenn Verhandlungen zwischen zwei Parteien auf Augenhöhe stattfinden. Wenn sie im Gegenzug ein gleichwertiges Zugeständnis erhält. Oder wenn ein Konsens ihrer Gefolgschaft sie dazu drängt.

Ein Friedensschluss steht derzeit ohnehin nicht an. Der israelische Ministerpräsident Ariel Scharon hat die Road Map als Erster für „tot“ erklärt und längst auf unilaterale Politik gesetzt wie den Mauerbau und den Abzug aus Gaza. Dem entspricht das Angebot von Hamas, einen zeitlich unbegrenzten Waffenstillstand (hudna) mit Israel zu schließen, ohne den Konflikt formell zu beenden. Eine Art stillschweigende Interimslösung könnte sich abzeichnen, wenn Israel nicht weiter palästinensisches Land annektiert.

Der Westen sollte Hamas testen, Kontakte und Geldzahlungen an realistische, erfüllbare Forderungen binden: Die Beendigung von Terroranschlägen in Israel, die Durchsetzung des Verbots, in der Öffentlichkeit Waffen zu tragen. Den Ausbau und Respekt des „rule of law“. Dieser Ansatz ist keine Garantie dafür, dass die radikalen Elemente von Hamas sich mäßigen. Aber eine Dämonisierung führt mit Sicherheit zum Gegenteil.

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