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Istanbul im Juni 2013.

© AFP

Istanbul probt den Aufstand gegen Erdogan: Sie sind das Volk

Die Demonstrationen sind ein Reifezeugnis für die Türken selbst. Sie haben ihrer eigenen Regierung die Grenzen aufgezeigt. Das ist ein Riesenschritt für die türkische Bevölkerung.

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan war in letzter Zeit immer weniger gewillt, auf Kritik oder Einwände Andersdenkender einzugehen. Jetzt hat er die Rechnung dafür erhalten – in Form der schwersten regierungsfeindlichen Unruhen in der Türkei seit seinem Amtsantritt vor zehn Jahren.

Anders als Erdogan selbst, der nach wie vor auf die Demonstranten schimpft, hat seine Regierung in Ankara am Dienstag in Abwesenheit des Chefs mit einer Entschuldigung an die Adresse der Protestbewegung signalisiert, dass sie gewillt ist, die Ereignisse als das zu sehen, was sie sind: ein Ausdruck dafür, dass Millionen Türken die Nase voll haben von einem autoritären Regierungsstil, in dem viel verboten, aber wenig diskutiert wird. Es geht bei den Protesten auch um Ärger über eine religiös- konservative Agenda des Premiers. Es geht aber vor allem um Erdogan persönlich.

Erdogan betont, dass er angesichts eines Stimmenanteils von 49,8 Prozent bei der letzten Wahl für seine Partei AKP ein starkes demokratisches Mandat habe. Nur folgt daraus nicht, dass er die Interessen jener Türken, die nicht AKP gewählt haben, einfach ignorieren kann. Sein Regierungsstil, der bisher im Wesentlichen in dem Prinzip Durchboxen statt Überzeugen bestand, ist gescheitert. Erdogan sieht die Türkei als großes und mächtiges Land, als potenzielle Führungsnation, und er tut alles, um diesem Anspruch gerecht zu werden. Nur vergisst er dabei meistens, die Menschen mitzunehmen.

Ganz anders dagegen Staatspräsident Abdullah Gül: Er sprach vom Recht der Türken auf friedliche Demonstrationen und davon, dass sich Demokratie nicht auf die Stimmabgabe alle vier Jahre erschöpft. Damit erfüllt Gül eine Funktion, die sonst in der türkischen Republik des Recep Tayyip Erdogan fehlt: ein Gegengewicht, das dem mächtigen Ministerpräsidenten zumindest hin und wieder die Grenzen aufzeigen kann.

Gleichzeitig sind die Demonstrationen ein Reifezeugnis für die Türken selbst. Sie haben ihrer eigenen Regierung die Grenzen aufgezeigt. Das ist ein Riesenschritt für ein Volk, das nach wie vor häufig nach obrigkeitsstaatlichen Prinzipien regiert wird und in dem noch vor nicht allzu langer Zeit nach der Armee und einem Putsch gerufen wurde, wenn es Probleme mit der Regierung gab. Diesmal ruft niemand nach den Soldaten. „Wir sind das Volk, wir sind im Recht, wir werden siegen“, heißt einer der beliebtesten Schlachtrufe der Demonstranten.

Die türkischen Wutbürger lassen sich dabei nicht mit den Demonstranten des Arabischen Frühlings vergleichen: Anders als in Ägypten oder Libyen handeln die Türken aus der Gewissheit heraus, ihre Regierung notfalls abwählen zu können. Und anders als in Ägypten und Libyen lenkte die türkische Regierung ein und zog die Polizei vom zentralen Taksim-Platz in Istanbul ab, um Schlimmeres zu verhindern. Das ist gut für die Demokratie in der Türkei und vielleicht das Beste, was Erdogan in den letzten Tagen getan hat.

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